Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner. 

Rudolstadt den 10. April [Dienstag] 1791. 

Ich habe Dich lange auf Briefe warten lassen, aber schon seit einigen Wochen bin ich hier, und habe soviel möglich den Schreibtisch vermieden, um von einer beschwerlichen Arbeit auszuruhen, die ich vor meiner Abreise aus Jena beendigte. Meine Brust ist mir seitdem um nichts leichter geworden, vielmehr empfinde ich noch immer bei starkem tiefem Athemholen einen spannenden Stich auf der Seite, welche entzündet gewesen ist, öfters Husten und zuweilen Beklemmungen. Ich mag es hier niemand sagen, was ich von diesem Umstand denke, aber mir ist, als ob ich diese Beschwerden behalten müßte. Eine Stunde laut zu lesen, wäre mir ganz und gar unmöglich. Doch habe ich seit meiner Krankheit kein Blut ausgeworfen. Ich ließ mir kürzlich zum zweyten mal Blutigel auf der rechten Brust setzen, die mir sehr viel Blut abnahmen, aber eher verschlimmerten als besserten. Auch reite ich die Woche 3, 4mal spazieren, und erwarte nur die frischen Kräuter, um nach der Verordnung meines Arztes abwechselnd Selzerwaßer mit Milch und frische Kräutersäfte zu gebrauchen. Der Herzog, der vor 3 oder 4 Wochen selbst in Jena war, hat mich diesen Sommer vom Lesen dispensirt, wie ich Dir wohl schon geschrieben habe. Indessen dispensirte es sich von selbst, denn ich würde nicht gekonnt haben, was mir unmöglich ist. Mein Gemüth ist heiter, und es soll mir nicht an Muth fehlen, wenn auch das schlimmste über mich kommen wird.

Es ist nicht gut, daß ich diesen Sommer nicht von Arbeit frei bin, aber da es von mir abhängt, den 30jährigen Krieg mit dieser zweyten Lieferung zu endigen, oder noch etwas für eine dritte aufzuheben, da es auch nicht gerade darauf ankommt, wie viel oder wie wenig Bogen er enthalte, so hoffe ich doch, diese Arbeit mit der Sorge für meine Gesundheit noch leidlich vereinigen zu können. Mehr freue ich mich auf die zweyte Hälfte des Sommers, wo ich Dich zu sehen hoffe, und wo auch meine Beschäftigungen mehr nach meinem Geschmack seyn werden. Ich habe in den letzten Zeiten meines Jenaer Aufenthalts einige Bekanntschaften gemacht, die mir seitdem sehr viel Vergnügen verschafft haben. Darunter gehört ein gewisser Erhard1 aus Nürnberg, Doctor medicinae, der hierher gekommen ist, um Reinhold und mich kennen zu lernen, und sich über Kantsche Philosophie weiter zu belehren. Es ist der reichste vielumfassendste Kopf, den ich noch je habe kennen lernen, der nicht nur Kantische Philosophie, nach Reinholds Aussage, aus dem Grunde kennt, sondern durch eigenes Denken auch ganz neue Blicke darin gethan hat, und überhaupt mit einer außerordentlichen Belesenheit eine ungemeine Kraft des Verstandes verbindet. Er ist Mathematiker, denkender Arzt, Philosoph, voll Wärme für Kunst, zeichnet ganz vortreflich und spielt ebenso gut Musik; doch ist er nicht über 25 Jahr alt. Sein Umgang ist geistvoll, sein moralischer Charakter vortreflich und größtentheils sein eigenes Werk; denn er hatte lange und hat noch mit einem starken Hang zur Satyre zu kämpfen. Die erste Erscheinung kündigt ihn nicht gleich so vortheilhaft an, als er sich bey längerm Umgange zeigt; weil er etwas decidirtes und sichres an sich hat, das man leicht für Prätension und Zudringlichkeit auslegt. Er arbeitet jetzt an einer Vertheidigung der Reinhold’schen Philosophie gegen einige Angriffe, die in der A. L. Z. darauf gemacht wurden2, und an einer größeren Schrift, welche den medicinischen Wissenschaften, eben so wie Kants Critik der Philosophie, ihre Grenzen abstecken soll. Geschrieben hat er noch nichts und hat auch nicht im Sinne als Schriftsteller zu wirken; weil er es seinen Kräften und Neigungen angemessen hält, im lebendigen Umgang auf einen kleinen Zirkel zu wirken. Ich schreibe Dir deßwegen so viel von ihm, weil Du ihn bei seiner Rückreise von Königsberg, wohin er in einigen Wochen abgeht, zu Dresden kennen lernen wirst. In eben diesem Sommer werde ich Dir auch einen anderen jungen Mann schicken, der Dich als Künstler intereßiren wird. Es ist ein Liefländer, Namens Grass3, der sich einige Jahre in Jena aufhielt, um da Theologie zu studiren. Darinn hat er es nun nicht weit gebracht, aber desto weiter im Zeichnen und Landschaftmahlen, wozu er ganz außerordentlich viel Genie besitzt. Göthe hat ihn kennen lernen und er versicherte mir, daß er die Anlage zu einem vortreflichen Mahler in ihm finde. Im vorigen Sommer machte er eine Excursion in die Schweitz, von wo er ganz begeistert zurückkam. Er wird Dir einige Schweitzerlandschaften zeigen, die er aus der Erinnerung hinwarf, voll Kraft und Leben, obgleich nichts weniger als ausgeführt. Dabey hat er große Talente zur Poesie, wovon Du im nächsten Stück der Thalia eine Probe lesen wirst. Er ist ein herzlich attachirtes Wesen, wo es ihm wohl ist; sein Aeußerliches verräth in jedem Betracht das Genie. 

Eine andere meiner Bekanntschaften ist ein gewißer Baron Herbert aus Klagenfurt, ein Mann an den 40, der Weib und Kind hat, eine Fabrike in Klagenfurt besitzt, und auf 4 Monate nach Jena reißte, Kantische Reinholdische Philosophie zu studiren. Ein guter gesunder Kopf, mit eben so gesundem moralischem Karakter. Er soll seinen Zweck erreicht haben, wie man mir sagt, und einen sehr gereinigten Kopf mit nach Hause zurückbringen. 

Bürger hat auf meine Recension eine Anticritik eingeschickt, die Du nebst meiner Antwort im Intelligenzblatt der A. L. Z. lesen wirst4. Dieser Tage habe ich mich beschäftigt, ein Stück aus dem 2ten Buch der Aeneide in Stanzen zu bringen; eine Idee wovon ich Dir wohl sonst schon geschrieben habe. Der Wunsch mich in Stanzen zu versuchen, und ein Kitzel poesie zu treiben, hat mich dazu verführt. Du wirst, denke ich, daraus finden, daß sich Virgil, so übersetzt, ganz gut lesen ließ. Es ist aber beynahe Originalarbeit, weil man nicht nur den lateinischen Text neu eintheilen muß, um für jede Stanze ein kleines Ganze daraus zu erhalten, sondern weil es auch durchaus nöthig ist, dem Dichter im Deutschen von einer andern Seite wiederzugeben, was von der einen unvermeidlich verloren geht5. Zu einem lyrischen Gedicht habe ich einen sehr begeisternden Stoff ausgefunden, den ich mir für meine schönsten Stunden zurücklege. 

Meine Frau grüßt Dich, Minna und Dorchen herzlich; auch meine Schwägerin will sich freundlich empfohlen haben. Vermuthlich zieht Ihr jetzt bald auf den Weinberg, wo wir euch etwa im August oder September finden werden. Lebewohl und sey nicht so karg mit Deinen Briefen, wenn ich auch zuweilen nicht ganz Termin halte. Das würde mir begegnen, wenn ich auch mit dem Himmel selbst correspondirte. 

               Dein 

S. 

Der Brief kam zu spät auf die Post, darum erhältst Du ihn einige Tage später.


1 Joh. Benj. Erhard, geb. 5. Febr. 1766 in Nürnberg, Mitarbeiter am Mercur und Schillers neuer Thalia, gest. als preußischer Obermedicinalrath in Berlin 28. Nov. 1827. Vgl. Varnhagen, Denkwürdigkeiten des Arztes und Philosophen Erhard. Stuttgart 1830.
2 Prüfung der im 26. Stücke der Allg. Lit. Ztg. 1791 enthaltenen Beurtheilung der Reinholdschen Elementarphilosophie: in Reinholds Fundament der philosophischen Wissenschaften. Jena 1791.
3 Karl Graß, geb. 20. Oct. 1767 in Lifland, gest. 3. Aug. 1814 in Rom am Nervenfieber. Ihm wird irrig das von B. A. Dunker verfaßte Lied: „Mein Herr Maler, wollt’ er wol“ zugeschrieben. Einige Briefe von ihm an Schiller sind gedruckt in: „Charlotte v. Schiller und ihre Freunde.“ 3, 130 ff. Von ihm erschienen: Fragmente von Wanderungen durch die Schweiz. Zürich 1797, und: Sizilische Reise, oder Auszüge aus dem Tagebuch eines Landschaftmalers. Tübingen, Cotta 1815. 2 Bde. 8°. Die Thalia enthält nichts von Graß, dagegen die Neue Thalia 1, 126: Erinnerung an die Schweiz von einem jungen Mahler, 1, 276: Der Rheinfall, von einem jungen Mahler u. s. w.
4 Nr. 46 vom J. 1791. Vgl. S. Schr. 6, 330 ff.
5 S. Schr. 6, 343 ff.


Bemerkungen

1 Zu S. 141. Z. 17. Johann Benjamin Erhard, der Sohn eines Drahtziehers, wurde in der That ein bedeutender Gelehrter, und auch Kant lernte seinen Umgang als besonders anregend schätzen. Vgl. Varnhagen v. Ense, Denkwürdigkeiten d. Philosophen u. Arztes J. B. Erhard. Stuttgart 1830 und Allgem. Deutsche Biogr. 
2 Zu S. 142. Z. 1. Gemeint ist wohl die „Prüfung der Reinholdschen Theorie des Vorstellens“ in Reinholds Schrift: „Über das Fundament des philosophischen Wissens“. Jena 1791. 
3 Zu Z. 13. Über den Dichter und Maler Karl Gotthard Graß vgl. die Allgem. Deutsche Biographie. 
4 Zu Z. 28. Über den Fabrikanten Franz Paul Freiherrn von Herbert vgl. die Allgem. Deutsche Biographie. Schiller überschätzt hier sein Alter, wie es scheint. Nach der Allgem. Deutschen Biographie war er am 25. März 1759 geboren. Reinhold widmete ihm die oben citierte Schrift über das Fundament des philos. Wissens. 
5 Zu S. 143. Z. 14. Ob hier an ein später ausgeführtes Gedicht zu denken ist, bleibt zweifelhaft. Der Ort Rudolstadt, aus dem Schiller schreibt, könnte auf das Lied von der Glocke raten lassen, von dem Karoline v. Wolzogen, Schs. Leben II. S. 181 sagt: „Lange hatte Schiller dieses Gedicht in sich getragen und mit uns oft davon gesprochen als einer Dichtung, von der er besondere Wirkung erwarte. Schon bei seinem Aufenthalt in Rudolstadt ging er oft nach einer Glockengießerei vor der Stadt spazieren, um von diesem Geschäft eine Anschauung zu gewinnen.“ Aber Beweiskraft hat diese Stelle nicht und die Vermutung bleibt ganz unsicher.