Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner. 

Ludwigsburg den 4. 8br [Freitag] 93.

Meine kleine Familie ist noch immer recht wohl auf, und meine Frau ist ihrem Wochenbette von den alten Zufällen freier geblieben als jemals. Ich bin noch immer mit meinem alten Leiden geplagt, und die vaterländische Luft will noch gar keine Wirkung zeigen. Sonst bin ich mit dem hiesigen Aufenthalt ganz wohl zufrieden, die theure Lebensart ausgenommen, die in manchem Artikel selbst die theuren Preise bei euch übersteigt. 

Von meinen alten Bekannten sehe ich viele, aber nur die wenigsten interessiren mich. Es ist hier in Schwaben nicht soviel Stoff und Gehalt als Du Dir einbildest, und diesen wenigen fehlt es gar zu sehr an der Form. Manche, die ich als helle, aufstrebende Köpfe verließ, sind materiell geworden und verbauert. Bei einigen andern fand ich noch manche der Ideen im Gang, die ich selbst ehmals in ihnen niederlegte: ein Beweis, daß sie bloße Gefäße sind. Unter den Besten ist der M. Conz, den Du, glaube ich, auch hast kennen lernen, und der sich sehr verbessert hat. In einer neuen Schrift von ihm Analecten aus griechischen Dichtern etc. findest Du einige Stücke von vielem Gehalt, unter vielem mittelmäßigen freilich. Einer meiner ehmaligen familiärsten Jugendfreunde, D. Hoven von hier, ist ein brauchbarer Arzt geworden; aber als Schriftsteller, wozu er sehr viel Anlage hatte, zurückgeblieben. Mit ihm habe ich von meinem 13ten Jahre biß fast zum 21. alle Epochen des Geistes gemeinschaftlich durchwandert. Zusammen dichteten wir, trieben wir Medicin und Philosophie. Ich bestimmte gewöhnlich seine Neigungen. Jetzt haben wir so verschiedene Bahnen genommen, daß wir einander kaum mehr finden würden, wenn ich nicht noch medicinische Reminiscenzen hätte. Indessen hat doch die frühe Uebung im Styl und in der Poesie ihm viel genützt, denn von da hat er eine Darstellungsgabe in seine Medicin mit herübergebracht, die ihm die Schriftstellerey darinn sehr erleichtert. Unter den jungen Künstlern in Stuttgardt ist Dannecker, ein Bildhauer, der beste, und Hetschen weit vorzuziehen. Er hat in Rom, wo er viele Jahre lebte, seinen Geschmack sehr gut gebildet, hat sehr schöne Ideen und führt sie geistreich aus. Die Abhängigkeit von d. Herzog, der sie immer mit Arbeit drückt, schadet den hiesigen jungen Künstlern sehr. In Stuttgardt bin ich noch nicht gewesen; anfangs des Wochenbettes meiner Frau wegen, und jetzt will meine Gesundheit es nicht leiden. Der Herzog sucht etwas darinn, mich zu ignorieren; er legt mir aber gar nichts in d. Weg. Meinem Vater hat er auf sein Ansuchen ein Bad zu gebrauchen erlaubt, auf so lange Zeit, als er selbst will; und dieses Bad ist nicht weit von hier, so daß er glauben mußte, mein Vater wolle bloß mir näher seyn. Alles wurde auf der Stelle bewilligt, so nöthig er auch meinem Vater in seinem Posten braucht. 

Ich habe noch wenig arbeiten können; ja es gibt viele Tage, wo ich Feder und Schreibtisch hasse. So ein hartnäckiges Uebel, so sparsam zugewogene freie Intervallen drücken mich oft schwer. Nie war ich reicher an Entwürfen zu schriftstellerischen Arbeiten, und nie konnt ich, wegen des elendesten aller Hindernisse, wegen körperlichen Druckes, weniger ausharren. An größere Compositionen darf ich gar nicht mehr denken, und bin froh, wenn ich nur von Zeit zu Zeit ein kleines Ganze vollenden kann. – Ich habe jetzt wieder eine kleine Schrift, etwa wie Anmuth und Würde angefangen, die mir oft viele Freude macht. Sie handelt vom ästhetischen Umgang. Soviel ich weiß, hat man darüber noch nichts philosophisches, und ich hoffe, Du sollst an der Ausführung sehen, daß diese Materie von sehr vielem Interesse ist. Ueber das Naive werde ich gleichfalls einen kleinen Traktat, doch nur für die Thalia aufsetzen. Ich bin mit keiner Erklärung dieses Phänomens, wie sie in unsern Theorieen aufgestellt sind, zufrieden, und hoffe etwas darüber zu sagen, was mehr befriedigt. 

Ich wünschte Du läsest die neue Schrift von Ramdohr: Charis oder über das Schöne in bildenden Künsten. Sie ist von zweyerley Seiten merkwürdig. Einmal als der elendeste Wisch von der Welt als Philosophie des Schönen betrachtet, was sie doch seyn soll: und dann wieder als ein sehr brauchbares, ja vortrefliches Werk, was die empirischen Regeln des Geschmacks in bildenden Künsten betrifft. Man sieht überall, daß dieser Mann mit vortreflichen Kunstwerken sehr vertraut ist, und daß es ihm gar nicht an Geist fehlt, seine Erfahrungen in Regeln zu ordnen; aber er ist verloren, wenn er zu den Principien hinaufsteigen will. Lies doch dieses Werk und sage mir Deine Meinung darüber. 

Ich bin neugierig, welchen Nachfolger man Reinholden in Jena geben wird. Ich finde ihn schon nicht mehr, wenn ich zurückkomme1. Fichte würde gewiß eine sehr gute Acquisition sein, und ihn, wenigstens dem Gehalt des Geistes nach, mehr als ersetzen. 

Daß meine Krankheit mir in allem zuwider seyn muß! Ich könnte es wahrscheinlich durchsetzen, in Weimar bei dem jungen Prinzen als Instructor angestellt zu werden. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird der Erziehungsplan mit ihm, da er jetzt doch zehn Jahr alt ist, erweitert, und da ich beim Herzog und auch bei der Herzogin sehr gut stehe, und man mir soviel weniger, als ich jetzt schon Besoldung ziehe, zu geben braucht, als einem anderen, so würde es gewiß gehen. Ich hätte dann in W. eine sehr erträgliche Existenz. Aber meine Zufälle lassen mich gar nicht daran denken, eine Verbindlichkeit zu übernehmen. Es wäre kein übler Posten bei unserem Prinzen, auch für künftige Hofnungen, die mir jetzt, da ich ein Kind habe, weniger gleichgültig sind. 

Lebe wohl und laß mich bald etwas von Dir hören. Wenn ich diese Zeit her etwas seltener schrieb, so mußt Du es mir zu gut halten. Es soll alles wieder ins Geleis kommen, wenn ich erst ruhiger bin; und ich kann Dir versichern, Du bist jetzt beinahe der einzige, dem ich schreibe. Meine Frau grüßt herzlich; wenn es noch Zeit ist, wird sie vielleicht einige Zeilen beilegen. Minna ist doch, wie ich hoffe längst wieder wohl? Tausend Grüße an euch alle von uns und auch von dem kleinen Carl Fridrich Ludwig. 

Sch. 

PS. Der Brief ist einen Posttag liegen geblieben. Meine Frau erhohlt sich täglich mehr, und ist schon etlichemal spazieren gewesen.


1) Reinhold war Prof. in Kiel geworden.


Bemerkungen

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1 Zu S. 359. Z. 5. Conz, „der dicke Magister“ war im August 1792 mit einem Bodeschen Empfehlungsbrief an Körner in Dresden gewesen. Vgl. Körner an Sch. vom 17. August 1792 u. Dora an Charl. Sch. vom 27. August (Urlichs, Charl. v. Sch. III. 6).
2 Zu S. 360. Z. 13. Die Schrift vom ästhetischen Umgang, die auch in den folgenden Nummern erwähnt wird, gelangte nicht zum Abschluß. Fragmentarisch erschien sie in den Horen 1795 im 9. u. 11. Stück und wurde wieder abgedruckt im 2. Bd. der Kleineren prosaischen Schriften S. 355 ff. unter dem Titel: Über die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. 
3 Zu Z. 21. Vgl. Schillers Urteil über Ramdohrs Charis an Goethe in Nr. 738.
4 Zu S. 36. Z. 1. Fichte wurde Reinholds Nachfolger. 
5 Zu Z. 27. Der Brief traf erst am 21. Okt. bei Körner ein.