Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner. 

Jena, 1. September [Montag] 1794.

Wir sind glücklich und bei ziemlich guter Zeit hier eingetroffen; und ich hoffe, daß auch Dir das schlimme Wetter nicht geschadet haben soll. Nimm noch einmal meinen herzlichen Dank an für das Opfer, das Du mir gebracht hast; und der Minna versichere, daß ich ihr die Gefälligkeit sehr hoch anrechne, Dich auf einige Tage mir überlassen zu haben. Es ist doch eine wohlthuende Empfindung, sich, wenn man getrennt lebt, und auch wie wir Beide sich im Geiste nahe bleibt, zuweilen wieder in das fleischliche Auge zu sehen. Ich wußte es vorher, und zweifelte keinen Augenblick, daß ich Dich ganz als denselben wiederfinden würde; aber es that mir doch herzlich wohl, mich mit meinen Augen davon zu überzeugen, und die Wirklichkeit meiner Erwartung gleichsam mit Händen zu greifen. 

Auf Deine Zusage wegen der musikalischen Abhandlung baue ich; denn Du bist hier ganz in Deinem Elemente, und das Geschäft ist nicht so verwickelt, daß Du bei Deinen übrigen Arbeiten Dich nicht recht gut dabei sammeln könntest. Gelegentlich denkst Du dann auch auf einen anderen Stoff, und vielleicht führen künftige Veranlassungen einen herbei. Deine Idee zu einer Darstellung des philosophischen Egoisten und seines Gegenteils würde ein herrlicher Stoff für ein Drama oder Roman seyn; aber bloß philosophisch behandelt dürfte die Ausführung ins Trockene verfallen, wie z. B. alle Mendelssohnschen Dialoge. Bei dem Versuche Metaphysik zu popularisiren, wie Du in Briefen an ein Frauenzimmer vorhast, wirst Du, fürchte ich, auf unübersteigliche Schwierigkeiten stoßen; und der Gewinn würde die ungeheure Arbeit schwerlich belohnen. 

Eine sehr schöne Materie würde die Aufstellung eines Ideals der Schriftstellerei und ihres Zusammenhangs mit der ganzen Cultur seyn, und ich wüßte keine, die in so hohem Grade für Dich taugte. Schriftstellereinfluß spielt in der neuen Welt eine so entscheidende Rolle, und es wäre zugleich so allgemein interessant und so allgemein nöthig, darüber etwas Bestimmtes und aus der reinen Menschheit Hergeleitetes festzusetzen. Diese Materie stände mit der Einwirkung auf die Geister in dem nächsten Zusammenhange, und die reichhaltigsten Resultate der ganzen Philosophie würden darin zusammenfließen. 

Bei meiner Zurückkunft fand ich einen sehr herzlichen Brief von Goethe1, der mir nun endlich mit Vertrauen entgegenkommt. Wir hatten vor sechs Wochen über Kunst und Kunsttheorie ein langes und breites gesprochen, und uns die Hauptideen mitgetheilt, zu denen wir auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren. Zwischen diesen Ideen fand sich eine unerwartete Uebereinstimmung, die um so interessanter war, weil sie wirklich aus der größten Verschiedenheit der Gesichtspunkte hervorging. Ein jeder konnte dem andern etwas geben, was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen. Seit dieser Zeit haben diese ausgestreuten Ideen bei Goethe Wurzel gefaßt, und er fühlt jetzt ein Bedürfnis, sich an mich anzuschließen und den Weg, den er bisher allein und ohne Aufmunterung betrat, in Gemeinschaft mit mir fortzusetzen. Ich freue mich sehr auf einen für mich so fruchtbaren Ideenwechsel, und was sich davon in Briefen mittheilen läßt, soll Dir getreulich berichtet werden. Gestern erhielt ich schon einen Aufsatz von ihm, worin er die Erklärung der Schönheit: daß sie Vollkommenheit mit Freiheit sei, auf organische Naturen anwendet. 

Ein großer Verlust für unsere Horen ist es, daß er seinen Roman2 schon an Unger verkauft hatte, ehe wir ihn zu den Horen einluden. Er beklagt es selbst, und hätte ihn uns mit Freuden überlassen. Doch verspricht er so viele Beiträge zu liefern, als in seinen Kräften steht. 

Hier die versprochene Anthologie für Minna, und für Dich die Thalia, worin Du Deinen Aufsatz über Declamation3 finden wirst. Mehrere solche Aufsätze würden uns für die Horen sehr vortheilhaft seyn. Du wirst Dir selbst gestehen müssen, wenn Du ihn wieder liest, daß diese simple und nachlässige Form dieser Materie sehr gut ansteht, und gewiß ist sie in kleinen Aufsätzen die allerpassendste. 

Bei meiner Nachhausekunft fand ich alles wohl. Auch ich hatte mich zum erstenmal von meinem Kinde getrennt, wie Du von Deiner Familie, und es war mir eine ganz eigene Freude, mich wieder in meinen kleinen häuslichen Kreis zu finden. Jetzt bin ich auf drei Wochen hier allein, denn meine Frau ist mit dem Kleinen nach Rudolstadt geflüchtet, weil die Pocken hier inoculirt werden und er jetzt im Zahngeschäft ist.

S.


1) Goethe: Schillers Briefwechsel Nr. 5. vom 27. Aug. 1794.
2) Wilhelm Meisters Lehrjahre.
3) 1793. 4, 101 ff.


Bemerkungen

1 Zu S. 1. Z. 3. Schiller war mit W. v. Humboldt zu einer Begegnung mit Körner am 26. August nach Weißenfels gefahren. Vgl. Nr. 734. 
2 Zu Z. 16. Die musikalische Abhandlung brachte Körner zu stande. Sie erschien unter dem Titel: „Über Charakterdarstellung in der Musik“ im ersten Jahrgang der Horen. 
3 Zu Z. 22. Eine Schrift Körners über den philos. Egoisten ist nicht erschienen.
4 Zu S. 2. Z. 1. Auch Briefe an ein Frauenzimmer über Metaphysik hat Körner nicht veröffentlicht. Vielleicht aber steht mit diesem Plane noch die freilich erst 1824 in der Nicolaischen Buchhandlung erschienene Schrift Körners: „Für deutsche Frauen“ im Zusammenhange. 
5 Zu Z. 5. Körner griff das Thema über das Ideal der Schriftstellerei auf, ließ es aber wieder fallen, als er Schillers neunten Brief über ästhetische Erziehung gelesen hatte. Auch an Garve empfahl Schiller das Thema, aber ebenfalls vergeblich. Vgl. Nr. 752 und 802. 
6 Zu Z. 14. Goethes Brief vom 27. August. 
7 Zu Z. 16. Vgl. zu Nr. 730. 
8 Zu Z. 30. Zu diesem m. W. unbekannten Aufsatze Goethes vgl. Körners Brief an Sch. vom 17. Okt. 1794 und Nr. 762.
9 Zu S. 3. Z. 1. Vgl. Goethe an Sch. d. 27. Aug. 1794. 
10 Zu Z. 5. Ideen über Deklamation. Neue Thalia N. S. 101-112.