Friedrich SchillerFriedrich Schiller

An Wolfgang von Goethe

Jena den 9. December 1794. 

  Mit wahrer Herzenslust habe ich das erste Buch Wilhelm Meisters durchlesen und verschlungen, und ich danke demselben einen Genuß, wie ich lange nicht, und nie als durch Sie gehabt habe. Es könnte mich ordentlich verdrießen, wenn ich das Mißtrauen, mit dem Sie von diesem trefflichen1 Product Ihres Genies sprechen, einer andern Ursache zuschreiben müßte, als der Größe der Forderungen, die Ihr Geist jederzeit an sich selbst machen muß. Denn ich finde auch nicht Etwas darin, was nicht in der schönsten Harmonie mit dem lieblichen Ganzen stünde. Erwarten Sie heute kein näheres Detail meines Urtheils. Die Horen und deren Ankündigung, nebst dem2 Posttag, zerstreuen mich zu sehr, als daß ich mein Gemüth zu einem solchen Zwecke gehörig sammeln könnte. Wenn ich die Bogen noch einige Zeit hier behalten darf, so will ich mir mehr Zeit dazu nehmen und versuchen, ob ich etwas von dem fernern Gang der Geschichte und der Entwicklung der Charaktere diviniren kann. Herr v. Humboldt hat sich auch3 recht daran gelabt, und findet, wie ich, Ihren Geist in seiner ganzen männlichen Jugend, stillen Kraft und schöpferischen Fülle. Gewiß wird diese Wirkung allgemein sein. Alles hält sich darin so einfach und schön in sich selbst zusammen, und mit wenigem ist soviel ausgerichtet. Ich gestehe, ich fürchtete mich anfangs, daß wegen der langen Zwischenzeit, die zwischen dem ersten Wurfe und der letzten Hand verstrichen sein muß, eine kleine Ungleichheit, wenn auch nur des Alters, sichtbar sein möchte. Aber davon ist auch nicht eine Spur zu sehen. Die kühnen poetischen Stellen, die aus der stillen Fluth des Ganzen wie einzelne Blitze vorschlagen, machen eine treffliche Wirkung, erheben und füllen das Gemüth. Ueber die schöne Characteristik will ich heute noch nichts sagen. Eben so wenig von der lebendigen und bis zum Greifen treffenden Natur, die in allen Schilderungen herrscht, und die Ihnen überhaupt in keinem Producte versagen kann. Von der Treue des Gemäldes einer t h e a t r a l i s c h e n  W i r t h s c h a f t und L i e b s c h a f t kann ich mit vieler Competenz urtheilen, indem ich mit beidem4 besser bekannt bin, als ich zu wünschen Ursache habe. Die Apologie des Handels ist herrlich und in einem großen Sinn. Aber daß Sie neben dieser die Neigung des Haupthelden noch mit einem gewissen Ruhm behaupten konnten, ist gewiß keiner der geringsten Siege, welche die Form über die Materie errang. Doch ich sollte mich gar nicht in das Innere einlassen, weil ich es in diesem Augenblicke nicht weiter durchführen kann.
  Auf Ihren und unser aller Namen habe ich bey Cotta Arrest gelegt,5 und er mag sich, wenn auch murrend, darein ergeben6. Das Avertissement habe ich heute zu meiner großen Erleichterung geendigt, und es wird dem Intelligenzblatt der Lit. Zeitung beigeschlossen werden. Ihr Versprechen, nach Weihnachten auf eine Zeitlang hieher zu kommen, ist mir sehr tröstlich, und läßt mich mit etwas heitererm7 Gemüth in diesen traurigen Winter blicken, der nie mein Freund gewesen ist.
  Von der Geschichte, Mlle. Clairon betreffend, habe ich nichts in Erfahrung bringen können. Doch erwarte ich noch einige Nachrichten darüber. Meiner Frau ist es noch erinnerlich davon gehört zu haben, daß in Bayreuth bei Oeffnung eines alten Gebäudes die alten Marggrafen sich hätten sehen lassen und geweissagt hätten. Hufeland, der Jurist8, der sonst wie jener gute Freund de rebus omnibus et de9 quibusdam aliis zu sprechen weiß, wußte mir nichts davon zu sagen.
  Alles empfiehlt sich Ihnen aufs beste und freut sich über Ihre versprochene Hieherkunft sehr.

Schiller.

 


 

1 vortrefflichen.
2 nebst dem] danebst der 1, 2.
3 auch] d.
4 beiden.
5-6 und er mag ... darein ergeben] d.
7 heiterem 1.
8 Hufeland, der Jurist] X. B, 1.
9 de] d.

 


 

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