Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Charlotte von Stein

Jena, den 2. Januar [Montag] 97.

Ungern gebe ich Ihre Composition aus den Händen, theure Freundin. Sie hat mich unbeschreiblich interessirt und in jeder Rücksicht. Außer dem schönen stillen sanften Geist, der überhaupt darin athmet, und außer dem vielen, was im Einzelnen vortrefflich gedacht und ausgesprochen ist, ist es mir, und zwar vorzüglich, durch die Lebendigkeit theuer geworden, womit sich eine zarte und edle weibliche Natur, womit sich die ganze Seele unsrer Freundin darin gezeichnet hat. Ich habe weniges, ja vielleicht noch nie etwas in meinem Leben gelesen, was mir die Seele, aus der es floß, so rein und klar und so wahr und prunklos überliefert hätte, und darum rührte es mich mehr als ich sagen kann. Aber so individuell und wahr es auch ist, daß man es unter die Bekenntnisse rechnen könnte, die ein edles Gemüth sich selbst und von sich selbst macht, so poetisch ist es bei dem allen, weil es wirklich eine productive Kraft, nemlich eine Macht beweist, sein eigenes Empfinden zum Gegenstand eines heitern und ruhigen Spiels zu machen und ihm einen äußern Körper zu geben. Von dieser Seite, ich gestehe es, hat es mich auch überrascht, denn ob ich gleich diese Empfindungsweise in meiner Freundin gar nicht neu finde, so war mir die Entdeckung doch in der That neu, daß sie ihren Gefühlen so viel poetisches Leben einhauchen, so viel Gestalt geben könnte. 

Meine Frau sagt, daß Sie das Mscrt. copiren lassen wollen. In diesem Falle wünschte ich es noch einmal der Orthographie wegen vorher anzusehen, worin es einige kleine Unrichtigkeiten hat. Wollten Sie dann auch mir eine Copie davon schenken, so geben Sie mir einen schönen Beweis Ihrer Freundschaft und Sie sollen es nie bereuen, dieses liebe Lied von Ihnen selbst in meine Hand gelegt zu haben. 

Ich bin recht ungeduldig Sie bald zu sehen und Ihnen dasjenige mündlich vielleicht lebendiger auszudrücken, was ich in diesem Brief sehr unvollkommen habe mittheilen können. 

Sch.


Bemerkungen

1 Zu S. 140. Z. 3. Es handelt sich um das Trauerspiel der Frau v. Stein: „Dido“. Vgl. Goethes Briefe an Frau v. Stein. 2. Aufl. von Fielitz S. 490 ff. und die Anmerkungen. Zu Z. 25. Vgl. Urlichs, Charl. v. Sch. II. 315.