Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner

Jena 25. May [Freitag] 98. 

Goethe ist seit 8 Tagen wieder hier und wird noch wohl einen Monat bleiben1. Ein Manuscript von Humboldt über Hermann und Dorothea, welches eine ausführliche Analysis nicht nur dieses Gedichts, sondern der ganzen Gattung zu der es gehört samt allen Annexis enthält, beschäftigte uns indessen sehr, weil er die wichtigsten Fragen über poetische Dinge zur Sprache bringt. Die Abhandlung, oder vielmehr das Werk, denn es wird, gedruckt2, ein dickes Buch werden, ist sehr gründlich gedacht, der Geist des Gedichts fein und scharf zergliedert, und die Grundsätze der Beurtheilung tief geschöpft. Nichts desto weniger fürchte ich, es wird lange den Eindruck nicht machen, den es verdient; denn außerdem daß es mit den bekannten Fehlern des Humboldtschen Stils behaftet ist, ist es für einen allgemeinen Gebrauch noch viel zu schulmäßig steif geschrieben. Bei einem poetischen Geisteswerke muß auch die Critik und das Raisonnement auf gewiße Weise zur Einbildungskraft sprechen, denn sonst entsteht, wie hier der Fall ist, ein nicht zu ermittelnder Sprung von dem Begriff und dem Gesetz zu dem einzelnen Fall und zur Anwendung auf den Dichter. Humboldten fehlt es an einer gewißen nothwendigen Kühnheit des Ausdrucks für seine Ideen und, in Rücksicht auf die ganze Tractation an der Kunst der Massen, die auch im lehrenden Vortrag so nothwendig sind als in irgend einer Kunstdarstellung. Weil es ihm daran fehlt, so faßt der Verstand seine Resultate nicht leicht und noch weniger drücken sie sich der Imagination ein, man muß sie zerstreut zusammen suchen, ein Satz verdrängt den andern, man wird auf vielerlei zugleich geheftet und nichts fesselt die Aufmerksamkeit vollkommen. Sonst aber ist für uns, die an seine Sprache gewöhnt sind, das Werk äuserst gedacht und gehaltreich, und es ist keine Frage, daß es in seiner Art an Gründlichkeit, Breite und Tiefe, an Scharfsinn der Unterscheidung und an Fülle der Verbindung unter den kritischen Produkten seines gleichen sucht. Ich werde dirs senden, sobald wir damit fertig sind. 

HE Gries empfehle ich Dir, seines musikalischen Talents wegen. Auch im Gespräch über Poetica wirst Du ihn nicht ganz leer finden, obgleich vieles was er fühlt und sagt nur Schlegelscher Nachhall ist. 

Vosses Behandlung der Griechen und Römer ist mir, seine alte Odyssen ausgenommen, immer ungenießbarer. Es scheint mir eine bloße rhythmische Kunstfertigkeit zu seyn, die um den Geist des jedesmaligen Stoffs wenig bekümmert, bloß ihren eignen und eigensinnig kleinlichen Regeln genüge zu thun sucht. Ovid ist in solchen Händen noch übler daran als Homer, und auch Virgil hat sich nicht zum beßten dabey befunden. 

Du scheinst vorauszusetzen, daß ich schneller im Arbeiten bin, als wirklich der Fall ist, ja als überhaupt möglich ist. Ich habe im höchsten Grad von Glück zu sagen und es darf keine einzige Unterbrechung durch Krankheit dazwischen kommen, wenn ich medio October mit dem Wallenstein und mit meinem Beitrag zum Almanach fertig bin.

Lebe wohl. Ich werde unterbrochen. 

Das letzte Horenstück erwarte ich alle Posttage, wenn es kommt, schicke ich das Geld für die Schuhe mit. Herzliche Grüße von uns an euch allen. 

Dein 

S.


1 Er reiste schon am 31. Mai zurück, kam dann am 4. Juni wieder und blieb bis zum 20.
2 Die Schrift erschien 1799 bei Vieweg.


Bemerkungen

1 Zu S. 387. Z. 18. Körner hatte gefragt, was Gries, der sich einige Zeit in Dresden aufhalten wolle, für ein Wesen sei.