Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Jena 23. Jul. [Montag] 98. 

Ihr erster anaglyphischer Versuch läßt viel Gutes von dieser Unternehmung erwarten. Ich hatte anfangs nur den kleinen Anstand ob das Ganze nicht einen zu sehr zusammengestückelten Anblick geben wird, so wie die gedruckten Musicnoten. Vielleicht aber habe ich Ihre Idee nicht ganz gefaßt und es kann alles wie aus Einem Stück gemacht erscheinen. 

Ich habe, weil der Druck des Almanachs jetzt angefangen ist, Ihr Poeten-Gedicht taufen müssen, und finde gerade keinen paßendern Titel als: Sängerwürde, der die Ironie versteckt, und doch die Satyre für den Kundigen ausdrückt. Wünschen Sie oder wißen Sie gleich einen beßern, so bitte, es mir morgen zu melden, weil ich das Gedicht bald in die Druckerey geben möchte. 

In Ihrem Streit mit Meiern scheint mir dieser ganz recht zu haben. Ob sich gleich das schöne naive in keine Formel faßen und folglich auch in keiner solchen überliefern läßt, so ist es doch seinem Wesen nach dem Menschen natürlich; da die entgegengesetzte sentimentale Stimmung ihm nicht natürlich, sondern eine Unart ist. Indem also die Schule diese Unart abhält oder corrigiert und über den natürlichen Zustand wacht, welches sich recht wohl denken läßt, so muß sie den naiven Geist nähren und fortpflanzen können. Die Natur wird das Naive in jedem Individuum, der Art, wenn gleich nicht dem Gehalt nach, hervorbringen und nähren, sobald nur alles weggeräumt wird, was sie stört; ist aber Sentimentalität schon da, so wird die Schule wohl nicht viel thun können. Ich kann nicht anders glauben als daß der naive Geist, welchen alle Kunstwerke aus einer gewißen Periode des Alterthums gemeinschaftlich zeigen, die Wirkung, und folglich auch der Beweis für die Wirksamkeit der Ueberlieferung durch Lehre und Muster ist. 

Nun wäre aber die Frage, was sich in einer Zeit wie die unsrige von einer Schule für die Kunst erwarten ließe. Jene alten Schulen waren Erziehungsschulen für Zöglinge, die neuern müßten Correctionshäuser für Züchtlinge seyn, und sich dabei, wenn Armuth des produktiven Genies, mehr kritisch als schöpferisch bildend beweisen. Indessen ist keine Frage daß schon viel gewonnen würde, wenn sich irgendwo ein fester Punkt fände oder machte, um welchen sich das Uebereinstimmende versammelte; wenn in diesem Vereinigungspunkt festgesetzt würde was für canonisch gelten kann und was verwerflich ist, und wenn gewiße Wahrheiten, die regulativ für die Künstler sind, in runden und gediegenen Formeln ausgesprochen und überliefert würden. So entstünden gewisse symbolische Bücher für Poesie und Kunst, zu denen man sich bekennen müßte und ich sehe nicht ein, warum der Sektengeist der sich für das Schlechte sogleich zu regen pflegt, nicht auch für das Gute geweckt werden könnte. Wenigstens scheint mirs, es ließe sich eben so viel zum Vortheil einer aesthetischen Confession und Gemeinheit anführen, als zum Nachtheil einer philosophischen. 

Ich habe heute Ritters Schrift über den Galvanism in die Hand bekommen, aber sogleich viel Gutes darinn ist, so hat mich die schwerfällige Art des Vortrags doch nicht befriedigt und auf eine Unterhaltung mit Ihnen über diese Materie nur desto begieriger gemacht.

Was sagen Sie zu dem neuen Schlegelischen Athenäum, und besonders zu den Fragmenten? Mir macht diese naseweise, entscheidende, schneidende und einseitige Manier physisch wehe. 

Leben Sie recht wohl und kommen bald herüber. Meine Frau und Schwiegermutter empfehlen sich Ihnen beßtens. 

Sch.


Bemerkungen

1 Zu S. 408. Z. 3. Der anaglyphische Versuch war der Probestich der Decke zu den Propyläen, eine Holzstocknachahmung in Kupfer. Vgl. Düntzer, Schiller u. Goethe S. 166. Zu Z. 11. Gemeint ist das Gedicht: Deutscher Parnaß. Zu Z. 16. Meier hatte behauptet, daß sich sogar das genialisch naive in einem gewissen Sinne durch Schule überliefern lasse. Vgl. X.
Zu S. 409. Z. 20. Schillers Kollege. Prof. Dr. Ritter in Jena hatte ein Buch herausgegeben: Beweis, daß ein beständiger Galvanismus den Lebensprozeß im Thierreich begleite. Zu Z. 25. Über die Schlegelschen Fragmente urteilte Goethe ruhiger und billiger, weshalb Sch. in Nr. 1363 noch einmal auf den Gegenstand zurückkommt.