Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

Weimar 26. July [Sonnabend] 1800.

Irgend ein Spiritus familiaris hat mir geoffenbart, daß Sie den Tancred übersetz, denn ich habe es, ehe ich Ihren Brief erhielt, als bekannt angekommen. Für unsre theatralischen Zwecke ist das Unternehmen gewiß sehr förderlich, ob ich gleich herzlich wünsche, daß der Faust es verdrängen möchte. 

Uebrigens beneide ich Sie darum, daß Sie doch etwas wirklich entstehen sehen. In diesem Fall bin ich noch nicht, weil ich über das Schema meiner Tragödie noch immer nicht in Ordnung bin, und noch große Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen habe. Ob man gleich bei jedem neu zu producierenden Werk durch eine solche Epoche hindurch muß, so giebt es doch stets das peinliche Gefühl, als ob nichts geschähe, weil am Abend eines Tages nichts kann aufgezeigt werden.

Was mich bei meinem neuen Stücke besonders incommodiert, ist, daß es sich nicht so wie ich wünsche in wenige große Massen ordnen will und daß ich es, in Absicht auf Zeit und Ort in zu viele Theile zerstückeln muß, welches, wenn auch die Handlung selbst die gehörige Stätigkeit hat, immer der Tragödie widerstrebend ist. Man muß, wie ich bei diesem Stück sehe, sich durch keinen allgemeinen Begriff fesseln, sondern es wagen, bei einem neuen Stoff die Form neu zu erfinden, und sich den Gattungsbegriff immer beweglich erhalten. 

Ich lege ein neues Journal bei, das mir zugeschickt worden, woraus Sie den Einfluß Schlegelischer Ideen auf die neuste Kunsturtheile zu Ihrer Bewunderung ersehen werden. Es ist nicht abzusehen, was aus diesem Wesen werden soll, aber weder für die Hervorbringung selbst, noch für das Kunstgefühl kann dieses hohle leere Fratzenwesen ersprießlich ausfallen. Sie werden erstaunen darinn zu lesen, daß das wahre Hervorbringen in Künsten ganz bewußtlos seyn muß, und daß man es besonders Ihrem Genius zum großen Vorzug anrechnet, ganz ohne Bewußtsein zu handeln. Sie haben also sehr unrecht, sich wie bißher rastlos dahin zu bemühen, mit der größtmöglichen Besonnnenheit zu arbeiten, und sich Ihren Prozeß klar zu machen. Der Naturalism ist das wahre Zeichen der Meisterschaft, und so hat Sophocles gearbeitet. 

Wann ich nach Lauchstädt gehen werde, hängt von einem Brief ab, den ich noch von Körnern erwarte. Sollte das Projekt nicht zu Stande kommen, so werde ich auf einige Zeit nach Ettersburg gehen und mich dort für den Anfang meiner Arbeit zu sammeln suchen.

Mögen Ihnen die Musen günstig seyn. Meine Frau grüßt sie. 

S.


Bemerkungen

1 Zu S. 177. Z. 5. Das neue Journal ist: Memnon. Eine Zeitschrift. Herausgegeben von August Klingemann. Erster Band. Leipzig 1800 bei Wilhelm Rein. In dieser Zeitschrift, von der nur der erste Band erschienen ist und selten geworden ist, heißt es (im zweiten der Briefe über Schillers Wallenstein) S. 82: „Goethens Produktionen sind bewußtlos, und dies vollendet sie in sich und macht sie zu reinen Schöpfungen; und derjenige, der den Dichter zu tadeln glaubte, indem er ihm das Absichtslose in seinem Werke vorwarf, hatte, ohne es zu wollen, das Höchste über ihn ausgesprochen, und seine Genialität bestätigt.“ Auf welchen der Beurteiler des Wilh. Meister Klingemann anspielt, weiß ich nicht. Zu Z. 18. Über Sophokles handelt Klingemann dann ebenda im 4. Briefe S. 91. ff.