Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Gottfried Körner

Weimar, 21. Januar [Donnerstag] 1802.1

Es hat mich sehr gefreut zu hören, daß Euch die Turandot gefallen hat. Ich leugne nicht, daß ich bei dieser Arbeit ein gewisses Gefühl von Selbstthätigkeit und Kunstfertigkeit hatte, das mir Freude machte; ich wünschte auch mehrere solche Anlässe zu finden, denn für die Augenblicke der Abspannung sind sie sehr wohlthätig, weil sie nicht die Kosten der Erfindung erfordern, und dabei doch zur Thätigkeit stimmen. Einträglich ist diese Art zu arbeiten weit mehr, als die eigene Production je werden kann, weil diese immer so viele Zeit wegnimmt.

Von Eurem Theater habe ich indessen noch keine Antwort erhalten, und kann also noch nicht einmal wissen, ob man das Stück überhaupt nur brauchen wird. 

Hier wollen wir im nächsten Monat Goethes Iphigenia aufs Theater bringen2; bei diesem Anlaß habe ich sie aufs neue mit Aufmerksamkeit gelesen, weil Goethe die Nothwendigkeit fühlt, einiges darin zu verändern. Ich habe mich sehr gewundert, daß sie auf mich den günstigen Eindruck nicht mehr gemacht hat, wie sonst; ob es gleich immer ein seelenvolles Product bleibt. Sie ist aber so erstaunlich modern und ungriechisch, daß man nicht begreift, wie es möglich war, sie jemals einem griechischen Stück zu vergleichen. Sie ist ganz nur sittlich; aber die sinnliche Kraft, das Leben, die Bewegung und alles, was ein Werk zu einem ächten dramatischen specificirt, geht ihr sehr ab. Goethe hat selbst mir schon längst zweideutig davon gesprochen – aber ich hielt es nur für eine Grille, wo nicht gar für Ziererei; bei näherem Ansehen aber hat es sich mir auch so bewährt. Indessen ist dieses Product in dem Zeitmoment, wo es entstand, ein wahres Meteor gewesen, und das Zeitalter selbst, die Majorität der Stimmen, kann es auch jetzt noch nicht übersehen; auch wird es durch die allgemeinen hohen poetischen Eigenschaften, die ihm ohne Rücksicht auf seine dramatische Form zukommen, bloß als ein poetisches Geisteswerk betrachtet, in allen Zeiten unschätzbar bleiben. 

Wenn man die Kunst sowie die Philosophie als etwas, das immer wird und nie ist, also nur dynamisch, und nicht, wie sie es jetzt nennen, atomistisch betrachtet, so kann man gegen jedes Product gerecht sein, ohne dadurch eingeschränkt zu werden. Es ist aber im Charakter der Deutschen, daß ihnen alles gleich fest wird, und daß sie die unendliche Kunst, so wie sie es bei der Reformation mit der Theologie gemacht, gleich in ein Symbolum hinein bannen müssen. Deswegen gereichen ihnen selbst treffliche Werke zum Verderben, weil sie gleich für heilig und ewig erklärt werden, und der strebende Künstler immer darauf zurückgewiesen wird. An diese Werke nicht religiös glauben, heißt Ketzerei, da doch die Kunst über allen Werken ist. Es giebt freilich in der Kunst ein Maximum, aber nicht in der modernen, die nur in einem ewigen Fortschritt ihr Heil finden kann. 

Ich habe dieser Tage den rasenden Roland wieder gelesen, und kann Dir nicht genug sagen, wie anziehend und erquickend mir diese Lectüre war. Hier ist Leben und Bewegung, und Farbe und Fülle; man wird aus sich heraus ins volle Leben, und doch wieder von da zurück in sich selbst hineingeführt; man schwimmt in einem reichen, unendlichen Element und wird seines ewigen identischen Ichs los, und existirt eben deswegen mehr, weil man aus sich selbst gerissen wird. Und doch ist, trotz aller Ueppigkeit, Rastlosigkeit und Ungeduld, Form und Plan in dem Gedicht, welches man mehr empfindet, als erkennt, und an der Stetigkeit und sich selbst erhaltenden Behaglichkeit und Fröhlichkeit des Zustandes wahrnimmt. Freilich darf man hier keine Tiefe suchen, und keinen Ernst; aber wir brauchen wahrlich auch die Fläche so nöthig, als die Tiefe, und für den Ernst sorgt die Vernunft und das Schicksal genug, daß die Phantasie sich nicht damit zu bemengen braucht. 

Lebe wohl. Ich will nicht wieder lesen, was ich geschrieben habe. 

S.


1 Der Brief wurde erst am 23. abgesandt. Kal. 118. Das Mscrpt. Scheint früh weggegeben zu sein; Vergleichung mit demselben fehlt.
2 Vgl. Goethe-Schiller Briefw. No. 836-860; geändert wurde nichts, da die Iphigenia sich durchaus probehaltig erwies.


Bemerkungen

1 Zu S. 335. Z. 15. Vgl. zu Nr. 1746.