Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Christian Gottfried Schütz

Weimar d. 22. Jan. [Freitag] 1802.

Empfangen Sie, mein verehrter Freund, den besten Dank für die mir gütigst mitgetheilte Recension der J. v. O. Sie zeigt zwar einen fähigen Verfasser, und ich habe Ursache, mit den guten Gesinnungen, die derselbe für mich „und mein Gedicht“ hegt, sehr zufrieden zu seyn; aber ich muß denn doch zur Steuer der Wahrheit gestehen, daß die Forderungen, die der Leser an eine Recension mit allem Rechte machen kann, keinesweges darinn erfüllt sind. Es ist vielmehr ein Versuch, wenn Sie wollen, seine Kunstmetaphysik auf ein vorhandenes Werk anzupassen und anzuwenden. Aber ein poetisches Werk muß, in so fern es, auch nur in hypothesi, ein in sich selbst organisirtes Ganze ist, aus sich selbst heraus, und nicht aus allgemeinen, und eben darum hohlen, Formeln beurtheilt werden; denn von diesen ist nie ein Uebergang zu dem Factum. Aber Sie werden überhaupt oft Gelegenheit gehabt haben, zu bemerken, daß unsere neueste Philosophie (selbst wenn ihre Principien als wahr angenommen werden) in der Anwendung hinkt; daß die Versuche, ihrer Stifter selbst, ins Praktische zu gehen, nicht glücklich ausfielen, sie mögen nun in der Aesthetik, oder im Naturrecht und in der Politik angestellt worden seyn. 

Daraus wird mir eben immer klarer, daß die Major an einem Syllogismus leichter ist, als die Minor, weil gerade die jüngsten und unreifsten Köpfe viel schneller in jene eingehen, als mit dieser umzugehen wissen, was doch gerade der Boden der Kritik ist.

So will ich die ganze lesende Welt auffordern, mir zu sagen, ob die Recension quaestionis auch nur die geringste Anschauung meines Trauerspiels enthalte, ob der Verfasser derselben auch nur in irgend einem Stücke in die innere Oekonomie desselben eingegangen ist; denn das Einzelne und Specielle, was er darin berührt, ist gerade von keiner Bedeutung. 

Ich mache diese Bemerkung nicht sowohl als Autor und insofern ich als solcher Dabey interessirt bin, denn ich habe mich keineswegs zu beklagen; aber als bloßer Leser und Kunstrichter habe ich den Mangel an Zweckmäßigkeit nicht ungerügt lassen können. 

Sie erweisen mir zu viel Ehre, theurer Freund, wenn Sie glauben, daß ich das Geschäft des Kritikers und Recensenten bey meinen Stücken selbst am besten übernehmen könne. Vor zehn Jahren hätte ich das ohne Bedenken gethan, weil ich damals noch einen größeren Glauben an eine Kunsttheorie und Aesthetik hatte, als jetzt. Gegenwärtig erscheinen mir die beyden Operationen des poetischen Hervorbringens und der throretischen Analysis, wie Nord- und Südpol von einander geschieden, und ich müßte fürchten, ganz von der Production abzukommen, wenn ich mich auf die Theorie zu sehr einlassen wollte. Diese ist zwar absolut nothwendig und wesentlich bey der Production selbst: aber da ist sie praktisch, und mehr für den Poeten, als den Aesthetiker. Und was ist denn, wenn wir die neuesten Erfahrungen hören, für die Poesie gewonnen worden, seitdem die Aesthetik so angebauet wird? Vestigia terrent. –

Leben Sie wohl, mein Werthester, und erhalten mir Ihre Freundschaft. 

Ganz der Ihrige 

Schiller.


Bemerkungen

1 S. 340. Z. 20. Lies: theoretischen.
Vgl. Archiv f. Littgesch. VI. 446 und zu Nr. 1746.