Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wilhelm von Humboldt

Weimar 2. April [Sonnabend] 1805.

Ich könnte es vor dem Himmel nicht verantworten, theurer Freund, wenn ich die schöne Gelegenheit, die sich mir darbietet, Ihnen ein Wort des Andenkens zu sagen, unbenuzt ließe. Ist es gleich eine unendlich lange Zeit, daß ich Ihnen nicht eine Zeile gesagt, so kommt es mir doch vor, als ob unsere Geister immer zusammen hiengen, und es macht mir Freude zu denken, daß ich mich auch nach dem längsten Stillstande mit gleichem Vertrauen, wie da wir noch zusammen lebten, an Ihr Herz legen kann. Für unser Einverständniß sind keine Jahre und keine Räume; Ihr Wirkungskreis kann Sie nicht so sehr vereinseitigen und beschränken, daß wir einander nicht immer in dem Würdigen und Rechten begegnen sollten. Und am Ende sind wir ja beide Idealisten und würden uns schämen, uns nachsagen zu laßen, daß die Dinge uns formten, und nicht wir die Dinge. 

Daß ich in dieser langen Zeit unsers stockenden Briefwechsels auf meine Art thätig war, wißen Sie und haben es, wie ich denke, gelesen. Ich wünschte auch von Ihnen selbst zu hören, wie Sie mit meinem Tell zufrieden sind, es ist ein erlaubter Wunsch; denn bei allem, was ich mache, denke ich, wie es Ihnen gefallen könnte. Der Rathgeber und Richter, der Sie mir so oft in der Wirklichkeit waren, sind Sie mir, in Gedanken, auch noch jezt, und wenn ich mich, um aus meinem Subjekt heraus zu kommen, mir selbst gegenüber zu stellen versuche, so geschieht es gerne in Ihrer Person und aus Ihrer Seele. 

Noch hoffe ich in meinem poetischen Streben keinen Rückschritt gethan zu haben, einen Seitenschritt vielleicht, indem es mir begegnet seyn kann, den materiellen Foderungen der Welt und der Zeit etwas eingeräumt zu haben. Die Werke des dramatischen Dichters werden schneller als alle andre von dem Zeitstrom ergriffen, er kommt, selbst wider Willen, mit der großen Masse in eine vielseitige Berührung, bei der man nicht immer rein bleibt. Anfangs gefällt es, den Herrscher zu machen über die Gemüther, aber welchem Herrscher begegnet es nicht, daß er auch wieder der Diener seiner Diener wird, um seine Herrschaft zu behaupten; und so kann es leicht geschehen seyn, daß ich, indem ich die deutschen Bühnen mit dem Geräusch meiner Stücke erfüllte, auch von den deutschen Bühnen etwas angenommen habe. 

Seit dem Tell haben Krankheiten und Zerstreuungen meine Thätigkeit öfters unterbrochen; eine Reise nach Berlin im vorig Frühjahr, darauf im Sommer eine heftige Krankheit, und dieser furchtbar angreifende Winter haben mich ziemlich von meinem Ziel verschlagen. An Vorsätzen und Entwürfen fehlte es zwar nicht, aber ich schwankte zu lange hin und her und habe mich erst seit einigen Monaten für eine neue Tragödie entschieden, die mich wohl bis Ende dieses Jahres beschäftigen wird. Um diesen Winter doch nicht ganz unthätig zu seyn, habe ich, da ich nichts eigenes machen konnte, die Phedre von Racine übersezt und spielen lassen, und diese nicht so ganz leichte Arbeit, hat mir eine angenehme Uebung gegeben. Zur Ankunft unserer Erbprinzeßin machte ich ein kleines Vorspiel, das ich Ihnen hier beilege. Es ist ein Werk des Moments und im Verlauf einiger Tage ausgedacht, ausgeführt und dargestellt worden. Eine Sammlung meiner Theaterstücke, womit diesen Sommer der Anfang gemacht wird, wird mit diesem Vorspiel, Don Carlos u der Jungfrau v. Orleans eröfnet. 

Goethe war diesen Winter wieder sehr krank und leidet noch jetzt an den Folgen. Alles räth ihm, ein milderes Clima zu suchen und besonders dem hiesigen Winter zu entfliehen. Ich liege ihm sehr an, wieder nach Italien zu gehen, aber er kann zu keinem Entschluße kommen, er fürchtet die Kosten und die Mühseligkeiten, auch mögen ihn vielleicht andere Einflüße binden. Unter diesen Umständen hat er freilich nicht viel im poetischen leisten können, aber Sie wißen, daß er nie unthätig und sein Müßiggang nur ein Wechsel der Beschäftigung ist. Er hat in diesem Winter eine ungedruckte, sehr geistreiche Satyre von Diderot übersetzt, die diesen Sommer bei Göschen herauskommt. Auch ist er mit Herausgabe ungedruckter Briefe von Winckelmann beschäftigt, und zuweilen ließ er sich auch mit vieler guter Laune in der Litt. Zeitung hören. Er wird, wenn es irgend seine Gesundheit erlaubt, Ihnen gewiß auch mit dieser Gelegenheit schreiben. Wir sahen uns diesen Winter selten, weil wir beide das Haus nicht verlassen durften. 

Daß ich Anträge gehabt, mich in Berlin zu fixieren, wißen Sie, und auch daß mich der Herzog v W. in die Umstände gesezt hat, mit Aisance hier zu bleiben. Da ich nun auch für meine dramatischen Schriften mit Cotta und mit d Theatern gute Accorde gemacht, so bin ich in d Stand gesezt, etwas für meine Kinder zu erwerben, und ich darf hoffen, wenn ich nur bis in mein fünfzigstes Jahr so fortfahre, ihnen die nöthige Unabhängigkeit zu verschaffen. Sie sehen, daß ich Sie ordentlich wie ein Hausvater unterhalte, aber ein solches Häuflein von Kindern, als ich um mich habe, kann einen wohl zum Nachdenken bringen 

Uebrigens leben wir hier in einem sehr angenehmen Verhältniß, und ich habe es noch keinen Augenblick bereut, daß ich es dem Aufenthalt in Berlin vorgezogen habe. Wäre ich freilich ein ganz unabhängiger Mensch, so würde ich dem Süden um vier Grade näher rücken.

Von unserer litterarischen Welt kann ich Ihnen wenig berichten, denn ich lebe wenig mehr in ihr. Die speculative Philosophie, wenn sie mich je gehabt hat, hat mich durch ihre hohle Formeln verscheucht, ich habe auf diesem kahlen Gefild keine lebendige Quelle und keine Nahrung für mich gefunden; aber die tiefen Grundideen der Idealphilosophie bleiben ein ewiger Schatz und schon allein um ihrentwillen muß man sich glücklich preisen, in dieser Zeit gelebt zu haben. Um die poetische Production in Deutschland sieht es aber kläglich aus, und man sieht wirklich nicht, wo eine Litteratur für die nächsten 30 Jahre herkommen soll. Auch nicht ein einziges neues Product der Poesie weiß ich Ihnen seit langer Zeit zu nennen, was einen neuen Nahmen an der Spitze trüge, und was einem Freude machte. Dagegen regt sich die eselhafte Nachahmungssucht der Deutschen mehr als jemals, eine Nachahmung, die bloß in einem identischen Wiederbringen und Verschlechtern des Urbildes besteht. Solcher Nachahmungen hat auch mein Wallenstein und Braut von Meßina vielfach hervorgebracht, aber man ist auch nicht um einen Schritt weiter gefördert. 

Aber nun auch genug von meinen und den deutschen Angelegenheiten. Ich wünschte mir anschaulich zu machen, wie Sie in Rom leben und worinn Sie leben. Der deutsche Geist sizt Ihnen zu tief, als daß Sie irgendwo aufhören könnten, deutsch zu empfinden und zu denken. Frau v. Stael hat mich bei ihrer Anwesenheit in Weimar aufs neu in meiner Deutschheit bestärkt, so lebhaft sie mir auch die vielen Vorzüge ihrer Nation vor der unsrigen fühlbar machte. Im philosophieren und im poetischen Sinne haben wir vor den Franzosen einen entschiedenen Schritt voraus, wie viel wir auch in allen anderen Stücken neben ihnen verlieren mögen. 

Haben Sie Ihre Bekanntschaft mit Schlegeln nun erneuert und wie stehen Sie mit ihm? Die Welt vernimmt jezt wenig von diesen beiden Brüdern, aber das Unheil, was sie in jungen und schwachen Köpfen angerichtet, wird sich doch lange fühlen, und die traurige Unfruchtbarkeit und Verkehrtheit, die jezt in unserer Litteratur sich zeigt, ist eine Folge dieses bösen Einflußes. 

Sagen Sie der guten Li meine herzlichsten Grüße, es war für mich eine schmerzliche Freude, als ich sie im vorigen Jahre hier wieder sah, u: ich läugne nicht, daß ich sehr viel für sie gefürchtet. Desto inniger freuen mich nun die guten Nachrichten, die wir von ihr gehört. Auch dem H. Kohlrausch bitte ich mein Andenken zu erneuern. 

Ich ersuche Sie, liebster Freund, innliegenden Brief an Grass ja recht bald zu besorgen. Er wartet schon fast ein Jahr auf meinen Brief, und wird mich beinahe aufgegeben haben. 

Tausendmal umarme ich Sie mein theurer Freund und wünsche, daß mich dieser Brief Ihnen ganz so, wie Sie mich sonst gekannt, wieder darstellen möchte. 

Schiller.


Bemerkungen

1 Abgesandt nach K. am 5. durch Herda.
S. 226. Z. 2. Lies: 2. April [Dienstag].
S. 228. Z. 34. In B. fehlt: höchst. S. 229. Z. 5. B. unselige Nachahmungssucht. Z. 10. B. wie da wie.
Zu S. 226. Z. 4. Über die Reise der Herren von Herda vgl. Archiv f. Littgesch. XV. 297.
Zu S. 227. Z. 8. Ein Brief Goethes an Humboldt aus diesen Tagen ist nicht bekannt.