Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Friedrich Schiller an Wolfgang von Goethe

[Weimar, 25. April. Montag. 1805.]

Die Anmerkungen schließen mit Voltaire lustig genug, und man bekommt noch eine tüchtige Ladung auf den Weg. Indessen seh ich mich gerade bei diesem lezten Artikel in einiger Controvers mit Ihnen, sowohl was das Register der Eigenschaften zum guten Schriftsteller, als was deren Anwendung auf Voltaire betrift. 

Zwar soll das Register nur eine empirische Aufzählung der Praedicate seyn, welche man bei Lesung der guten Schriftsteller auszusprechen sich veranlaßt fühlt; aber stehen diese Eigenschaften in Einer Reihe hintereinander, so fällt es auf, Genera und Species, Hauptfarben und Farbentöne neben einander aufgeführt zu sehen. Wenigstens würde ich in dieser Reihenfolge die großen viel enthaltenden Worte, Genie, Verstand, Geist, Styl etc vermieden und mich nur in den Schranken ganz partieller Stimmungen u Nüancen gehalten haben. 

Dann vermisse ich doch in der Reihe noch einige Bestimmungen, wie Charakter, Energie und Feuer, welche gerade das sind, was die Gewalt so vieler Schriftsteller ausmacht und sich keineswegs unter die angeführten subsumieren läßt. Freilich wird es schwer sein dem Voltairischen Proteus einen Character beizulegen. 

Sie haben zwar, indem Sie Voltairen die Tiefe absprechen, auf einen Hauptmangel desselben hingedeutet, aber ich wünschte doch, daß das was man Gemüth nennt und was ihm sowie im Ganzen allen Franzosen so sehr fehlt, auch wäre ausgesprochen worden. Gemüth und Herz haben Sie in der Reihe nicht mit aufgeführt; freilich sind sie theilweise schon unter andern Praedicaten enthalten, aber doch nicht in dem vollen Sinn, als man damit verbindet. 

Schließlich gebe ich Ihnen zu bedenken, ob Ludwig XIV, der doch im Grund ein sehr weicher Charakter war, der nie als Held durch seine Persönlichkeit viel im Kriege geleistet, und dessen stolze Repraesentations-Regierung, wenn man billig seyn will, zunächst das Werk von zwey sehr thätigen Ministerialregierungen war, die ihm vorhergiengen und das Feld rein machten, ob Ludwig XIV mehr als Heinrich IV den französischen Königscharakter darstellt. 

Dieser heteros logos fiel mir beim Lesen ein, und ich wollte ihn nicht vorenthalten. 

S. 

[Adresse:] 
                        an 
   Herrn Geh. Rath v. Goethe 
                           Exzellenz.


Bemerkungen

1 Vgl. Goethe zu Eckermann d. 18. Jan. 1825.
S. 239. Z. 2. Lies: 25. April [Donnerstag].