Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Der Antritt des neuen Jahrhunderts

An ***

 

Edler Freund! Wo öffnet sich dem Frieden,
   Wo der Freiheit sich ein Zufluchtsort?
Das Jahrhundert ist im Sturm geschieden,
   Und das neue öffnet sich mit Mord.

Und das Band der Länder ist gehoben,
   Und die alten Formen stürzen ein;
Nicht das Weltmeer hemmt des Krieges Toben,
   Nicht der Nilgott und der alte Rhein.

Zwo gewalt‘ge Nationen ringen
   Um der Welt alleinigen Besitz,
Aller Länder Freiheit zu verschlingen,
   Schwingen sie den Dreizack und den Blitz.

Gold muss ihnen jede Landschaft wägen,
   Und, wie B r e n n u s in der rohen Zeit,
Legt der Franke seinen ehr‘nen Degen
   In die Waage der Gerechtigkeit.

Seine Handelsflotten streckt der Brite
   Gierig wie Polypenarme aus,
Und das Reich der freien Amphitrite
   Will er schließen wie sein eig‘nes Haus.

Zu des Südpols nie erblickten Sternen
   Dringt sein rastlos ungehemmter Lauf,
Alle Inseln spürt er, alle fernen
   Küsten – nur das Paradies nicht auf.

Ach, umsonst auf allen Länderkarten
   Spähst du nach dem seligen Gebiet,
Wo der Freiheit ewig grüner Garten,
   Wo der Menschheit schöne Jugend blüht.

Endlos liegt die Welt vor deinen Blicken,
   Und die Schifffahrt selbst ermisst sie kaum,
Doch auf ihrem unermess‘nen Rücken
   Ist für zehn Glückliche nicht Raum.

In des Herzens heilig stille Räume
   Musst du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit ist nur in dem Reich der Träume,
   Und das Schöne blüht nur im Gesang.

 


 

Überarbeitet von Jürgen Kühnle auf Basis folgender Quellen:

  1. Gedichte von Friedrich Schiller. Siegfried Lebrecht Crusius, Leipzig, 1804. Seite 6-3. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.
  2. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. Neunter Band. J.G. Cotta’sche Buchhandlung. 1814. Seite 4-299. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.

Weitere Informationen zu diesem Gedicht finden Sie im Lexikon.

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