Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Das Geheimnis der Reminiszenz

 

An Laura

  Ewig starr an Deinem Mund zu hangen,
Wer enthüllt mir dieses Glutverlangen?
Wer die Wollust, Deinen Hauch zu trinken,
In Dein Wesen, wenn sich Blicke winken,
      Sterbend zu versinken?

  Fliehen nicht, wie ohne widerstreben
Sklaven an den Sieger sich ergeben,
Meine Geister hin im Augenblicke,
Stürmend über meines Lebens Brücke,
      Wenn ich Dich erblicke?

  Sprich! Warum entlaufen sie dem Meister?
Suchen dort die Heimat meine Geister,
Oder finden sich getrennte Brüder
Losgerissen von dem Band der Glieder
      Dort bei Dir sich wieder?

  Waren unsre Wesen schon verflochten?
War es darum, dass die Herzen pochten?
Waren wir im Strahl erlosch’ner Sonnen
In den Tagen lang verrauschter Wonnen
      Schon in eins zerronnen?

  Ja, wir waren’s! – Innig mir verbunden
Warst du in Äonen, die verschwunden,
Meine Muse sah es auf der trüben
Tafel der Vergangenheit geschrieben,
      Eins mit Deinem Lieben!

  Und in innig festverbund’nem Wesen,
Also hab’ ich’s staunend dort gelesen,
Waren wir ein G o t t, ein schaffend Leben,
Und uns ward, sie herrschend zu durchweben,
      Frei die Welt gegeben.

  Uns entgegen gossen Nektarquellen
Ewig strömend ihre Wollustwellen,
Mächtig lösten wir der Dinge Siegel,
Zu der Wahrheit lichtem Sonnenhügel
      Schwang sich unser Flügel.

  Weine, Laura! Dieser Gott ist nimmer,
Du und ich des Gottes schöne Trümmer
Und in uns ein unersättlich Dringen,
Das verlor’ne Wesen einzuschlingen,
      Gottheit zu erschwingen.

  Darum, Laura, dieses Glutverlangen
Ewig starr an Deinem Mund zu hangen,
Und die Wollust Deinen Hauch zu trinken,
In Dein Wesen, wenn sich Blicke winken,
      Sterbend zu versinken.

  Darum fliehn, wie ohne Widerstreben
Sklaven an den Sieger sich ergeben,
Meine Geister hin im Augenblicke,
Stürmend über meines Lebens Brücke,
      Wenn ich Dich erblicke.

  Darum nur entlaufen sie dem Meister,
Ihre Heimat suchen meine Geister,
Losgerafft vom Kettenband der Glieder
Küssen sich die langgetrennten Brüder
      Wiedererkennend wieder.

  Und auch Du – da mich Dein Auge spähte,
Was verriet der Wangen Purpurröte?
Floh’n wir nicht als wären wir verwandter,
Freudig, wie zur Heimat ein Verbannter,
      Glühend aneinander?

 


 

Überarbeitet auf Basis folgender Quellen:

  1. Gedichte von Friedrich Schiller. Siegfried Lebrecht Crusius, Leipzig, 1804. Seite 6-237. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.
  2. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. Erster und Zweiter Band. J.G. Cotta’sche Buchhandlung. 1812. Seite 4-15. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.