Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Parabeln und Rätsel

 

1.

Von Perlen baut sich eine Brücke
  Hoch über einen grauen See,
Sie baut sich auf im Augenblicke,
  Und schwindelnd steigt sie in die Höh’.

Der höchsten Schiffe höchste Masten
  Ziehn unter ihrem Bogen hin,
Sie selber trug noch keine Lasten
  Und scheint, wie Du ihr nahst, zu fliehn.

Sie w i r d erst m i t dem Strom und schwindet
  So, wie des Wassers Flut versiegt.
So sprich, w o sich die Brücke findet,
  Und wer sie künstlich hat gefügt?

2.

Es führt Dich meilenweit von dannen
  Und bleibt doch stets an seinem Ort.
Es hat nicht Flügel auszuspannen
  Und trägt Dich durch die Lüfte fort.
Es ist die allerschnellste Fähre,
  Die jemals einen Wandrer trug
Und durch das größte aller Meere,
  Trägt es Dich mit Gedankenflug,
  Ihm ist ein Augenblick genug!

3.

Auf einer großen Weide gehen
  Viel tausend Schafe silberweiß,
Wie wir sie heute wandeln sehen,
  Sah’ sie der allerält’ste Greis.

Sie altern nie und trinken Leben
  Aus einem unerschöpften Born.
Ein Hirt ist ihnen zugegeben
  Mit schön gebog’nem Silberhorn.

Er treibt sie aus zu goldnen Toren.
  Er überzählt sie jede Nacht
Und hat der Lämmer keins verloren,
  So oft er auch den Weg vollbracht.

Ein treuer H u n d hilft sie ihm leiten,
  Ein munt’rer W i d d e r geht voran.
D i e   H e r d e, kannst Du sie mir deuten,
  Und auch den Hirten zeig’ mir an.

4.

Es steht ein groß geräumig Haus
  Auf unsichtbaren Säulen.
Es missts und gehts kein Wand’rer aus
  Und keiner darf drinn weilen.
Nach einem unbegriff’nen Plan
  Ist es mit Kunst gezimmert,
Es steckt sich selbst die Lampe an,
  Die es mit Pracht durchschimmert.
Es hat ein Dach, kristallenrein,
  Von einem einz’gen Edelstein;
  Doch noch kein Auge schaute
  Den Meister, der es baute.

5.

Zwei Eimer sieht man ab und auf
  In einem Brunnen steigen,
Und schwebt der eine voll herauf,
  Muss sich der and’re neigen.
Sie wandern rastlos hin und her,
Abwechselnd voll und wieder leer
Und bringst Du diesen an den Mund,
Hängt jener in dem tiefsten Grund.
  Nie können sie mit ihren Gaben
  In gleichem Augenblick Dich laben.

6.

Kennst Du das Bild auf zartem Grunde,
  Es gibt sich selber Licht und Glanz.
Ein and’res ist’s zu jeder Stunde
  Und immer ist es frisch und ganz.
Im engsten Raum ist’s ausgeführet,
  Der kleinste Rahmen fasst es ein,
Doch alle Größe die Dich rühret,
  Kennst Du durch dieses Bild allein.

Und kannst du den Kristall mir nennen,
  Ihm gleicht an Wert kein Edelstein.
Er leuchtet ohne je zu brennen,
  Das ganze Weltall saugt er ein.
Der Himmel selbst ist abgemalet
  In seinem wundervollen Ring.
Und doch ist, was er von sich strahlet,
  Noch schöner als was er empfing.

7.

Unter allen Schlangen ist eine,
  Auf Erden nicht gezeugt,
Mit der an Schnelle keine,
  An Wut sich keine vergleicht.

Sie stürzt mit furchtbarer Stimme
  Auf ihren Raub sich los,
Vertilgt in einem Grimme
  Den Reiter und sein Ross.

Sie liebt die höchsten Spitzen,
  Nicht Schloss, nicht Riegel kann
Vor ihrem Anfall schützen,
  Der Harnisch – lockt sie an.

Sie bricht wie dünne Halmen
  Den stärksten Baum entzwei,
Sie kann das Erz zermalmen,
  Wie dicht und fest es sei,

Und dieses Ungeheuer
  Hat zweimal nur gedroht –
Es stirbt im eig’nen Feuer,
  Wie’s tötet, ist es tot!

8.

  Wie heißt das Ding, das wen’ge schätzen,
Doch ziert’s des größten Kaisers Hand,
Es ist gemacht, um zu verletzen,
Am nächsten ist’s dem Schwert verwandt.

  Kein Blut vergießt’s und macht doch tausend Wunden,
Niemand beraubt’s und macht doch reich,
Es hat den Erdkreis überwunden,
Es macht das Leben sanft und gleich.

  Die größten Reiche hat’s gegründet,
Die ält’sten Städte hat’s erbaut,
Doch niemals hat es Krieg entzündet,
Und Heil dem Volk das ihm vertraut!

9.

Ich wohne in einem steinernen Haus,
Da lieg’ ich verborgen und schlafe,
Doch ich trete hervor, ich eile heraus,
Gefordert mit eiserner Waffe.
Erst bin ich unscheinbar und schwach und klein,
Mich kann Dein Atem bezwingen,
Ein Regentropfen schon saugt mich ein,
Doch mir wachsen im Siege die Schwingen,
Wenn die mächtige Schwester sich zu mir gesellt,
Erwachs’ ich zum furchtbar’n Gebieter der Welt.

10.

Ein V o g e l ist es und an Schnelle
  Buhlt es mit eines Adlers Flug,
Ein F i s c h ist’s und zerteilt die Welle,
  Die noch kein größ’res Unthier trug,
Ein E l e f a n t ist’s welcher Türme
  Auf seinem schweren Rücken trägt,
Der S p i n n e n kriechendem Gewürme
  Gleicht es, wenn es die Füße regt,
Und hat es fest sich eingebissen
  Mit seinem spitz’gen Eisenzahn,
So steht’s gleichwie auf festen Füßen
  Und trotzt dem wütenden Orkan.

 


 

Überarbeitet auf Basis folgender Quellen:

  1. Gedichte von Friedrich Schiller. Siegfried Lebrecht Crusius, Leipzig, 1804. Seite 6-223. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.
  2. Friedrich von Schillers sämmtliche Werke. Neunter Band. J.G. Cotta’sche Buchhandlung. 1814. Seite 4-148. Unveränderter Originaltext auf dieser Seite.