Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Über naive und sentimentalische Dichtung

Elegische Dichtung

   Setzt der Dichter die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit so entgegen, dass die Darstellung des ersten überwiegt und das Wohlgefallen an demselben herrschende Empfindung wird, so nenne ich ihn elegisch. Auch diese Gattung hat, wie die Satire, zwei Klassen unter sich. Entweder ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste gibt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung1).

   Wie der Unwille bei der pathetischen und wie der Spott bei der scherzhaften Satire, so darf bei der Elegie die Trauer nur aus einer durch das Ideal erweckten Begeisterung fließen. Dadurch allein erhält die Elegie poetischen Gehalt und jede andere Quelle derselben ist völlig unter der Würde der Dichtkunst. Der elegische Dichter sucht die Natur, aber in ihrer Schönheit, nicht bloß in ihrer Annehmlichkeit, in ihrer Übereinstimmung mit Ideen, nicht bloß in ihrer Nachgiebigkeit gegen das Bedürfnis. Die Trauer über verlorene Freuden, über das aus der Welt verschwundene goldene Alter, über das entflohene Glück der Jugend, der Liebe usw. kann nur alsdann der Stoff zu einer elegischen Dichtung werden, wenn jene Zustände sinnlichen Friedens zugleich als Gegenstände moralischer Harmonie sich vorstellen lassen. Ich kann deswegen die Klaggesänge des Ovid, die er aus seinem Verbannungsort am Euxin anstimmt, wie rührend sie auch sind und wie viel Dichterisches auch einzelne Stellen haben, im Ganzen nicht wohl als ein poetisches Werk betrachten. Es ist viel zu wenig Energie, viel zu wenig Geist und Adel in seinem Schmerz. Das Bedürfnis, nicht die Begeisterung stieß jene Klagen aus; es atmet darin, wenngleich keine gemeine Seele, doch die gemeine Stimmung eines edleren Geistes, den sein Schicksal zu Boden drückte. Zwar, wenn wir uns erinnern, dass es Rom und das Rom des Augustus ist, um das er trauert, so verzeihen wir dem Sohn der Freude seinen Schmerz; aber selbst das herrliche Rom mit allen seinen Glückseligkeiten ist, wenn nicht die Einbildungskraft es erst veredelt, bloß eine endliche Größe, mithin ein unwürdiges Objekt für die Dichtkunst, die erhaben über alles, was die Wirklichkeit aufstellt, nur das Recht hat, um das Unendliche zu trauern. 

   Der Inhalt der dichterischen Klage kann also niemals ein äußerer, jederzeit nur ein innerer idealistischer Gegenstand sein; selbst wenn sie einen Verlust in der Wirklichkeit betrauert, muss sie ihn erst zu einem idealistischen umschaffen. In dieser Reduktion des Beschränkten auf ein Unendliches besteht eigentlich die poetische Behandlung. Der äußere Stoff ist daher an sich selbst immer gleichgültig, weil ihn die Dichtkunst niemals so brauchen kann, wie sie ihn findet, sondern nur durch das, was sie selbst daraus macht, ihm die poetische Würde gibt. Der elegische Dichter sucht die Natur, aber als eine Idee und in einer Vollkommenheit, in der sie nie existiert hat, wenn er sie gleich als etwas da Gewesenes und nun Verlorenes beweint. Wenn uns Ossian von den Tagen erzählt, die nicht mehr sind und von den Helden, die verschwunden sind, so hat seine Dichtungskraft jene Bilder der Erinnerung längst in Ideale, jene Helden in Götter umgestaltet. Die Erfahrungen eines bestimmten Verlustes haben sich zur Idee der allgemeinen Vergänglichkeit erweitert und der gerührte Barde*, den das Bild des allgegenwärtigen Ruins verfolgt, schwingt sich zum Himmel auf, um dort in dem Sonnenlauf ein Sinnbild des Unvergänglichen zu finden2).

   Ich wende mich sogleich zu den neuern Poeten in der elegischen Gattung. Rousseau, als Dichter wie als Philosoph, hat keine andere Tendenz, als die Natur entweder zu suchen oder an der Kunst zu rächen. Je nachdem sich sein Gefühl entweder bei der einen oder der andern verweilt, finden wir ihn bald elegisch gerührt, bald zu Juvenalischer Satire begeistert, bald, wie in seiner Julie, in das Feld der Idylle entzückt. Seine Dichtungen haben unwidersprechlich poetischen Gehalt, da sie ein Ideal behandeln; nur weiß er denselben nicht auf poetische Weise zu gebrauchen. Sein ernster Charakter lässt ihn zwar nie zur Frivolität herabsinken, aber erlaubt ihm auch nicht sich bis zum poetischen Spiel zu erheben. Bald durch Leidenschaft, bald durch Abstraktion* angespannt, bringt er es selten oder nie zu der ästhetischen* Freiheit, welche der Dichter seinem Stoff gegenüber behaupten, seinem Leser mitteilen muss. Entweder es ist seine kranke Empfindlichkeit, die über ihn herrscht und seine Gefühle bis zum Peinlichen treibt; oder es ist seine Denkkraft, die seiner Imagination Fesseln anlegt und durch die Strenge des Begriffs die Anmut des Gemäldes vernichtet. Beide Eigenschaften, deren innige Wechselwirkung und Vereinigung den Poeten eigentlich ausmacht, finden sich bei diesem Schriftsteller in ungewöhnlich hohem Grad und nichts fehlt, als dass sie sich auch wirklich miteinander vereinigt äußerten, dass seine Selbsttätigkeit sich mehr in sein Empfinden, dass seine Empfänglichkeit sich mehr in sein Denken mischte. Daher ist auch in dem Ideale, das er von der Menschheit aufstellt, auf die Schranken derselben zu viel, auf ihr Vermögen zu wenig Rücksicht genommen und überall mehr ein Bedürfnis nach physischer Ruhe als nach moralischer Übereinstimmung darin sichtbar. Seine leidenschaftliche Empfindlichkeit ist Schuld, dass er die Menschheit, um nur des Streits in derselben recht bald los zu werden, lieber zu der geistlosen Einförmigkeit des ersten Standes zurückgeführt, als jenen Streit in der geistreichen Harmonie einer durchgeführten Bildung geendigt sehen, dass er die Kunst lieber gar nicht anfangen lassen, als ihre Vollendung erwarten will, kurz, dass er das Ziel lieber niedriger steckt und das Ideal lieber herabsetzt, um es nur desto schneller, um es nur desto sicherer zu erreichen. 

   Unter Deutschlands Dichtern in dieser Gattung will ich hier nur Hallers, Kleists und Klopstocks erwähnen. Der Charakter ihrer Dichtung ist sentimentalisch: Durch Ideen rühren sie uns, nicht durch sinnliche Wahrheit, nicht sowohl weil sie selbst Natur sind, als, weil sie uns für Natur zu begeistern wissen. Was indessen von dem Charakter sowohl dieser als aller sentimentalischen Dichter im Ganzen wahr ist, schließt natürlicherweise darum keineswegs das Vermögen aus, im Einzelnen uns durch naive Schönheit zu rühren: Ohne das würden sie überall keine Dichter sein. Nur ihr eigentlicher und herrschender Charakter ist es nicht, mit ruhigem, einfältigem und leichtem Sinn zu empfangen und das Empfangene ebenso wieder darzustellen. Unwillkürlich drängt sich die Phantasie der Anschauung, die Denkkraft der Empfindung zuvor, und man verschließt Auge und Ohr, um betrachtend in sich selbst zu versinken. Das Gemüt kann keinen Eindruck erleiden, ohne sogleich seinem eigenen Spiel zuzusehen, und was es in sich hat, durch Reflexion sich gegenüber und aus sich heraus zu stellen. Wir erhalten auf diese Art nie den Gegenstand, nur, was der reflektierende Verstand des Dichters aus dem Gegenstand machte und selbst dann, wenn der Dichter selbst dieser Gegenstand ist, wenn er uns seine Empfindungen darstellen will, erfahren wir nicht seinen Zustand unmittelbar und aus der ersten Hand, sondern, wie sich derselbe in seinem Gemüt reflektiert, was er als Zuschauer seiner selbst darüber gedacht hat. Wenn Haller den Tod seiner Gattin betrauert (man kennt das schöne Lied) und folgendermaßen anfängt: 

Soll ich von deinem Tode singen,
O Mariane, welch ein Lied!
Wenn Seufzer mit den Worten ringen,
Und ein Begriff den andern flieht, usf. 

so finden wir diese Beschreibung genau wahr; aber wir fühlen auch, dass uns der Dichter nicht eigentlich seine Empfindungen, sondern seine Gedanken darüber mitteilt. Er rührt uns deswegen auch weit schwächer, weil er selbst schon sehr viel erkältet sein musste, um ein Zuschauer seiner Rührung zu sein. 

   Schon der größtenteils übersinnliche Stoff der Hallerischen und zum Teil auch der Klopstockschen Dichtungen schließt sie von der naiven Gattung aus; sobald daher jener Stoff überhaupt nur poetisch bearbeitet werden sollte, so musste er, da er keine körperliche Natur annehmen und folglich kein Gegenstand der sinnlichen Anschauung erhoben werden. Überhaupt lässt sich nur in diesem Sinn eine didaktische Poesie ohne innern Widerspruch denken: Denn, um es noch einmal zu wiederholen, nur diese zwei Felder besitzt die Dichtkunst; entweder sie muss sich in der Sinnenwelt oder sie muss sich in der Ideenwelt aufhalten, da sie im Reich der Begriffe oder in der Verstandeswelt schlechterdings nicht gedeihen kann. Noch, ich gestehe es, kenne ich kein Gedicht in dieser Gattung, weder aus älterer noch neuerer Literatur, welches den Begriff, den es bearbeitet, rein und vollständig entweder bis zur Individualität herab oder bis zur Idee hinaufgeführt hätte. Der gewöhnliche Fall ist, wenn es noch glücklich geht, dass zwischen beiden abgewechselt wird, während dass der abstrakte Begriff herrscht, und dass der Einbildungskraft, welche auf dem poetischen Feld zu gebieten haben soll, bloß gestattet wird den Verstand zu bedienen. Dasjenige didaktische Gedicht, worin der Gedanke selbst poetisch wäre und es auch bliebe, ist noch zu erwarten. 

   Was hier im Allgemeinen von allen Lehrgedichten gesagt wird, gilt auch von den Hallerischen insbesondere. Der Gedanke selbst ist kein dichterischer Gedanke, aber die Ausführung wird es zuweilen bald durch den Gebrauch der Bilder, bald durch den Aufschwung zu Ideen. Nur in der letztern Qualität gehören sie hierher. Kraft und Tiefe und ein pathetischer Ernst charakterisieren diesen Dichter. Von einem Ideal ist seine Seele entzündet, und sein glühendes Gefühl für Wahrheit sucht in den stillen Alpentälern die aus der Welt verschwundene Unschuld. Tief rührend ist seine Klage; mit energischer, fast bitterer Satire zeichnet er die Verirrungen des Verstandes und Herzens und mit Liebe die schöne Einfalt der Natur. Nur überwiegt überall zu sehr der Begriff in seinen Gemälden, sowie in ihm selbst der Verstand über die Empfindung den Meister spielt. Daher lehrt er durchgängig mehr, als er darstellt, und stellt durchgängig mit mehr kräftigen als lieblichen Zügen dar. Er ist groß, kühn, feurig, erhaben; zur Schönheit aber hat er sich selten oder niemals erhoben.

   An Ideengehalt und an Tiefe des Geistes steht Kleist diesem Dichter um vieles nach; an Anmut möchte er ihn übertreffen, wenn wir ihm anders nicht, wie zuweilen geschieht, einen Mangel auf der einen Seite für eine Stärke auf der andern anrechnen. Kleists gefühlvolle Seele schwelgt am liebsten im Anblick ländlicher Szenen und Sitten. Er flieht gerne das leere Geräusch der Gesellschaft und findet im Schoß der leblosen Natur die Harmonie und den Frieden, den er in der moralischen Welt vermisst. Wie rührend ist seine Sehnsucht nach Ruhe3)! Wie wahr und gefühlt, wenn er singt: 

   „O Welt, du bist des wahren Lebens Grab!
Oft reizt mich ein heißer Trieb zur Tugend,
Für Wehmut rollt ein Bach die Wang’ herab,
Das Beispiel siegt, und du, o Feu’r der Jugend,
Ihr trocknet bald die edeln Tränen ein.
Ein wahrer Mensch muss fern von Menschen sein.“ 

   Aber, hat ihn sein Dichtungstrieb aus dem einengenden Kreis der Verhältnisse heraus in die geistreiche Einsamkeit der Natur geführt, so verfolgt ihn auch noch bis hierher das ängstliche Bild des Zeitalters und leider auch seine Fesseln. Was er flieht, ist in ihm, was er sucht, ist ewig außer ihm; nie kann er den üblen Einfluss seines Jahrhunderts verwinden. Ist sein Herz gleich feurig, seine Phantasie gleich energisch genug, die toten Gebilde des Verstandes durch die Darstellung zu beseelen, so entseelt der kalte Gedanke ebenso oft wieder die lebendige Schöpfung der Dichtungskraft, und die Reflexion stört das geheime Werk der Empfindung. Bunt zwar und prangend wie der Frühling, den er besang, ist seine Dichtung, seine Phantasie ist rege und tätig; doch möchte man sie eher veränderlich als reich, eher spielend als schaffend, eher unruhig fortschreitend als sammelnd und bildend nennen. Schnell und üppig wechseln Züge auf Züge, aber ohne sich zum Individuum zu konzentrieren, ohne sich zum Leben zu füllen und zur Gestalt zu runden. Solang er bloß lyrisch dichtet und bloß bei landschaftlichen Gemälden verweilt, lässt uns teils die größere Freiheit der lyrischen Form, teils die willkürliche Beschaffenheit seines Stoffs diesen Mangel übersehen, indem wir hier überhaupt mehr die Gefühle des Dichters als den Gegenstand selbst dargestellt verlangen. Aber der Fehler wird nur allzu merklich, wenn er sich, wie in seinem Cissides und Paches und in seinem Seneca, herausnimmt, Menschen und menschliche Handlungen darzustellen, weil hier die Einbildungskraft sich zwischen festen und notwendigen Grenzen eingeschlossen sieht und der poetische Effekt nur aus dem Gegenstand hervorgehen kann. Hier wird er dürftig, langweilig, mager und bis zum Unerträglichen frostig: Ein warnendes Beispiel für alle, die ohne innern Beruf aus dem Feld musikalischer Poesie in das Gebiet der bildenden sich versteigen. Einem verwandten Genie, dem Thomson, ist die nämliche Menschlichkeit begegnet. 

   In der sentimentalischen Gattung und besonders in dem elegischen Teil derselben möchten wenige aus den neuern und noch wenigere aus den ältern Dichtern mit unserm Klopstock zu vergleichen sein. Was nur immer, außerhalb den Grenzen lebendiger Form und außer dem Gebiet der Individualität, im Feld der Idealität zu erreichen ist, ist von diesem musikalischen Dichter geleistet4). Zwar würde man ihm großes Unrecht tun, wenn man ihm jene individuelle Wahrheit und Lebendigkeit, womit der naive Dichter seinen Gegenstand schildert, überhaupt absprechen wollen. Viele seiner Oden, mehrere einzelne Züge in seinen Dramen und in seinem Messias stellen den Gegenstand mit treffender Wahrheit und in schöner Umgrenzung dar; da besonders, wo der Gegenstand sein eigenes Herz ist, hat er nicht selten eine große Natur, eine reizende Naivität bewiesen. Nur liegt hierin seine Stärke nicht, nur möchte sich diese Eigenschaft nicht durch das Ganze seines dichterischen Kreises durchführen lassen. So eine herrliche Schöpfung die Messiade in musikalisch poetischer Rücksicht nach der oben gegebenen Bestimmung ist, so vieles lässt sie in plastisch poetischer noch zu wünschen übrig, wo man bestimmte und für die Anschauung bestimmte Formen erwartet. Bestimmt genug möchten vielleicht noch die Figuren in diesem Gedicht sein, aber nicht für die Anschauung; nur die Abstraktion hat sie erschaffen, nur die Abstraktion kann sie unterscheiden. Sie sind gute Exempel zu Begriffen, aber keine Individuen, keine lebenden Gestalten. Der Einbildungskraft, an die doch der Dichter sich wenden, und die er durch die durchgängige Bestimmung seiner Formen beherrschen soll, ist es viel zu sehr freigestellt, auf was Art sie sich diese Menschen und Engel, diese Götter und Satane, diesen Himmel und diese Hölle versinnlichen will. Es ist ein Umriss gegeben, innerhalb dessen der Verstand sie notwendig denken muss, aber keine feste Grenze ist gesetzt, innerhalb deren die Phantasie sie notwendig darstellen müsste. Was ich hier von den Charakteren sage, gilt von allem, was in diesem Gedicht Leben und Handlung ist oder sein soll, und nicht bloß in dieser Epopöe, auch in den dramatischen Poesien unsers Dichters. Für den Verstand ist alles trefflich bestimmt und begrenzt (ich will hier nur an seinen Judas, seinen Pilatus, seinen Philo, seinen Salomo, im Trauerspiel dieses Namens, erinnern); aber es ist viel zu formlos für die Einbildungskraft, und hier, ich gestehe es frei heraus, finde ich diesen Dichter ganz und gar nicht in seiner Sphäre.

   Seine Sphäre ist immer das Ideenreich, und ins Unendliche weiß er alles, was er bearbeitet, hinüberzuführen. Man möchte sagen, er ziehe allem, was er behandelt, den Körper aus, um es zu Geist zu machen, so wie andere Dichter alles Geistige mit einem Körper bekleiden. Beinahe jeder Genuss, den seine Dichtungen gewähren, muss durch eine Übung der Denkkraft errungen werden; alle Gefühle, die er und zwar so innig und so mächtig in uns zu erregen weiß, strömen aus übersinnlichen Quellen hervor. Daher dieser Ernst, diese Kraft, dieser Schwung, diese Tiefe, die alles charakterisieren, was von ihm kommt; daher auch diese immerwährende Spannung des Gemüts, in der wir bei Lesung desselben erhalten werden. Kein Dichter (Young etwa ausgenommen, der darin mehr fordert als er, aber ohne es, wie er tut, zu vergüten) dürfte sich weniger zum Liebling und zum Begleiter durchs Leben schicken, als gerade Klopstock, der uns immer nur aus dem Leben herausführt, immer nur den Geist unter die Waffen ruft, ohne den Sinn mit der ruhigen Gegenwart eines Objekts zu erquicken. Keusch, überirdisch, unkörperlich, heilig, wie seine Religion, ist seine dichterische Muse, und man muss mit Bewunderung gestehen, dass er, wiewohl zuweilen in diesen Höhen verirrt, doch niemals davon herabgesunken ist. Ich bekenne daher unverhohlen, dass mir für den Kopf desjenigen etwas bange ist, der wirklich und ohne Affektation* diesen Dichter zu seinem Lieblingsbuch machen kann, zu einem Buch nämlich, bei dem man zu jeder Lage sich stimmen, zu dem man aus jeder Lage zurückkehren kann; auch, dächte ich, hätte man in Deutschland Früchte genug von seiner gefährlichen Herrschaft gesehen. Nur in gewissen exaltierten Stimmungen des Gemüts kann er gesucht und empfunden werden; deswegen ist er auch der Abgott der Jugend, obgleich bei weitem nicht ihre glücklichste Wahl. Die Jugend, die immer über das Leben hinausstrebt, die alle Form flieht und jede Grenze zu eng findet, ergeht sich mit Liebe und Lust in den endlosen Räumen, die ihr von diesem Dichter aufgetan werden. Wenn dann der Jüngling Mann wird und aus dem Reich der Ideen in die Grenzen der Erfahrung zurückkehrt, so verliert sich vieles, sehr vieles von jener enthusiastischen Liebe, aber nichts von der Achtung, die man einer so einzigen Erscheinung, einem so außerordentlichen Genius, einem so sehr veredelten Gefühl, die der Deutsche besonders einem so hohen Verdienst schuldig ist. 

   Ich nannte diesen Dichter vorzugsweise in der elegischen Gattung groß, und kaum wird es nötig sein, dieses Urteil noch besonders zu rechtfertigen. Fähig zu jeder Energie und Meister auf dem ganzen Feld sentimentalischer Dichtung, kann er uns bald durch das höchste Pathos erschüttern, bald in himmlisch süße Empfindungen wiegen; aber zu einer hohen, geistreichen Wehmut neigt sich doch überwiegend sein Herz; und wie erhaben auch seine Harfe, seine Lyra tönt, so werden die schmelzenden Töne seiner Laute doch immer wahrer und tiefer und beweglicher klingen. Ich berufe mich auf jedes rein gestimmte Gefühl, ob es nicht alles Kühne und Starke, alle Fiktionen, alle prachtvollen Beschreibungen, alle Muster oratorischer Beredsamkeit im Messias, alle schimmernden Gleichnisse, worin unser Dichter so vorzüglich glücklich ist, für die zarten Empfindungen hingeben würde, welche in der Elegie an Ebert, in dem herrlichen Gedicht Bardale, den frühen Gräbern, der Sommernacht, dem Zürcher See und mehreren andern aus dieser Gattung atmen. So ist mir die Messiade als ein Schatz elegischer Gefühle und idealistischer Schilderungen teuer, wie wenig sie mich auch als Darstellung einer Handlung und als ein episches Werk befriedigt.

   An den bisherigen Beispielen hat man gesehen, wie der sentimentalische Dichtergeist einen natürlichen Stoff behandelt; man könnte aber auch interessiert sein, zu wissen, wie der naive Dichtergeist mit einem sentimentalischen Stoff verfährt. Völlig neu und von einer ganz eigenen Schwierigkeit scheint diese Aufgabe zu sein, da in der alten und naiven Welt ein solcher Stoff sich nicht vorfand, in der neuen aber der Dichter dazu fehlen möchte. Dennoch hat sich das Genie auch diese Aufgabe gemacht und auf eine bewunderungswürdig glückliche Weise aufgelöst. Ein Charakter, der mit glühender Empfindung ein Ideal umfasst und die Wirklichkeit flieht, um nach einem wesenlosen Unendlichen zu ringen, der, was er in sich selbst unaufhörlich zerstört, unaufhörlich außer sich sucht, dem nur seine Träume das Reelle, seine Erfahrungen ewig nur Schranken sind, der endlich in seinem eigenen Dasein nur eine Schranke sieht und auch diese, wie billig ist, noch einreißt, um zu der wahren Realität durchzudringen – dieses gefährliche Extrem des sentimentalischen Charakters ist der Stoff eines Dichters geworden, in welchem die Natur getreuer und reiner als in irgendeinem andern wirkt, und der sich unter modernen Dichtern vielleicht am wenigsten von der sinnlichen Wahrheit der Dinge entfernt. 

   Es ist interessant zu sehen, mit welchem glücklichen Instinkt alles, was dem sentimentalischen Charakter Nahrung gibt, im Werther zusammengedrängt ist: Schwärmerische, unglückliche Liebe, Empfindsamkeit für Natur, Religionsgefühle, philosophischer Kontemplationsgeist, endlich, um nichts zu vergessen, die düstre, gestaltlose, schwermütige Ossianische Welt. Rechnet man dazu, wie wenig empfehlend, ja, wie feindlich die Wirklichkeit dagegen gestellt ist, und wie von außen her alles sich vereinigt, den Gequälten in seine Idealwelt zurückzudrängen, so sieht man keine Möglichkeit, wie ein solcher Charakter aus einem solchen Kreis sich hätte retten können. In dem Tasso des nämlichen Dichters kehrt der nämliche Gegensatz, wiewohl in ganz verschiedenen Charakteren, zurück; selbst in seinem neuesten Roman stellt sich, sowie in jenem ersten, der poetisierende Geist dem nüchternen Gemeinsinn, das Ideale dem Wirklichen, die subjektive Vorstellungsweise der objektiven – – aber mit welcher Verschiedenheit entgegen; sogar im Faust treffen wir den nämlichen Gegensatz, freilich, wie auch der Stoff dies erforderte, auf beiden Seiten sehr vergröbert und materialisiert, wieder an; es verlohnte wohl der Mühe, eine psychologische Entwicklung dieses in vier so verschiedenen Arten spezifizierten Charakters zu versuchen. 

   Es ist oben bemerkt worden, dass die bloß leichte und joviale Gemütsart, wenn ihr nicht eine innere Ideenfülle zugrunde liegt, noch gar keinen Beruf zur scherzhaften Satire abgebe, so freigebig sie auch im gewöhnlichen Urteil dafür genommen wird; ebenso wenig Beruf gibt die bloß zärtliche Weichmütigkeit und Schwermut zur elegischen Dichtung. Beiden fehlt zu dem wahren Dichtertalente das energische Prinzip, welches den Stoff beleben muss, um das wahrhaft Schöne zu erzeugen. Produkte dieser zärtlichen Gattung können uns daher bloß schmelzen und, ohne das Herz zu erquicken und den Geist zu beschäftigen, bloß der Sinnlichkeit schmeicheln. Ein fortgesetzter Hang zu dieser Empfindungsweise muss zuletzt notwendig den Charakter entnerven und in einen Zustand der Passivität versenken, aus welchem gar keine Realität, weder für das äußere noch innere Leben, hervorgehen kann. Man hat daher sehr Recht getan, jenes Übel der Empfindelei5) und weinerliche Wesen, welches durch Missdeutung und Nachäffung einiger vortrefflicher Werke, vor etwa achtzehn Jahren, in Deutschland überhand zu nehmen anfing, mit unerbittlichem Spott zu verfolgen, obgleich die Nachgiebigkeit, die man gegen das nicht viel bessere Gegenstück jener elegischen Karikatur, gegen das spaßhafte Wesen, gegen die herzlose Satire und die geistlose Laune6) zu beweisen geneigt ist, deutlich genug an den Tag legt, dass nicht aus ganz reinen Gründen dagegen geeifert worden ist. Auf der Waage des echten Geschmacks kann das eine so wenig als das andere etwas gelten, weil beiden der ästhetische* Gehalt fehlt, der nur in der innigen Verbindung des Geistes mit dem Stoff und in der vereinigten Beziehung eines Produktes auf das Gefühlvermögen und auf das Ideenvermögen enthalten ist. 

   Über Siegwart und seine Klostergeschichte hat man gespottet, und die Reisen nach dem mittäglichen Frankreich werden bewundert; dennoch haben beide Produkte gleich großen Anspruch auf einen gewissen Grad von Schätzung und gleich geringen auf ein unbedingtes Lob. Wahre, obgleich überspannte Empfindung macht den ersten Roman, ein leichter Humor und ein aufgeweckter, feiner Verstand macht den zweiten schätzbar; aber, so wie es dem einen durchaus an der gehörigen Nüchternheit des Verstandes fehlt, so fehlt es dem andern an ästhetischer* Würde. Der erste wird der Erfahrung gegenüber ein wenig lächerlich, der andere wird dem Ideal gegenüber beinahe verächtlich. Da nun das wahrhaft Schöne einerseits mit der Natur und andrerseits mit dem Ideal übereinstimmend sein muss, so kann der eine so wenig als der andere auf den Namen eines schönen Werks Anspruch machen. Indessen ist es natürlich und billig, und ich weiß es aus eigener Erfahrung, dass der Thümmelsche Roman mit großem Vergnügen gelesen wird. Da er nur solche Forderungen beleidigt, die aus dem Ideal entspringen, die folglich von dem größten Teil der Leser gar nicht und von dem bessern gerade nicht in solchen Momenten, wo man Romane liest, aufgeworfen werden, die übrigen Forderungen des Geistes und – des Körpers hingegen in nicht gemeinem Grad erfüllt, so muss er und wird mit Recht ein Lieblingsbuch unserer und aller Zeiten bleiben, wo man ästhetische* Werke bloß schreibt, um zu gefallen, und bloß liest, um sich ein Vergnügen zu machen. 

   Aber hat die poetische Literatur nicht sogar klassische Werke aufzuweisen, welche die hohe Reinheit des Ideals auf ähnliche Weise zu beleidigen und sich durch die Materialität ihres Inhalts von jener Geistigkeit, die hier von jedem ästhetischem* Kunstwerk verlangt wird, sehr weit zu entfernen scheinen? Was selbst der Dichter, der keusche Jünger der Muse, sich erlauben darf, sollte das dem Romanschreiber, der nur sein Halbbruder ist und die Erde noch so sehr berührt, nicht gestattet sein? Ich darf dieser Frage hier umso weniger ausweichen, da sowohl im elegischen als im satirischen Fach Meisterstücke vorhanden sind, welche eine ganz andere Natur, als diejenige ist, von der dieser Aufsatz spricht, zu suchen, zu empfehlen und dieselbe nicht sowohl gegen die schlechten als gegen die guten Sitten zu verteidigen das Ansehen haben. Entweder müssten also jene Dichterwerke zu verwerfen, oder der hier aufgestellte Begriff elegischer Dichtung viel zu willkürlich angenommen sein. 

   Was der Dichter sich erlauben darf, hieß es, sollte dem prosaischen Erzähler nicht nachgesehen werden dürfen? Die Antwort ist in der Frage schon enthalten: Was dem Dichter gestattet ist, kann für den, der es nicht ist, nichts beweisen. In dem Begriff des Dichters selbst und nur in diesem liegt der Grund jener Freiheit, die eine bloß verächtliche Lizenz ist, sobald sie nicht aus dem Höchsten und Edelsten, was ihn ausmacht, kann abgeleitet werden.

   Die Gesetze des Anstandes sind der unschuldigen Natur fremd; nur die Erfahrung der Verderbnis hat ihnen den Ursprung gegeben. Sobald aber jene Erfahrung einmal gemacht worden und aus den Sitten die natürliche Unschuld verschwunden ist, so sind es heilige Gesetze, die ein sittliches Gefühl nicht verletzen darf. Sie gelten in einer künstlichen Welt mit demselben Recht, als die Gesetze der Natur in der Unschuldwelt regieren. Aber eben das macht ja den Dichter aus, dass er alles in sich aufhebt, was an eine künstliche Welt erinnert, dass er die Natur in ihrer ursprünglichen Einfalt wieder in sich herzustellen weiß. Hat er aber dieses getan, so ist er auch eben dadurch von allen Gesetzen los gesprochen, durch die ein verführtes Herz sich gegen sich selbst sicherstellt. Er ist rein, er ist unschuldig, und, was der unschuldigen Natur erlaubt ist, ist es auch ihm; bist du, der du ihn liest oder hörst, nicht mehr schuldlos, und kannst du es nicht einmal momentweise durch seine reinigende Gegenwart werden, so ist es dein Unglück und nicht das seine; du verlässt ihn, er hat für dich nicht gesungen. 

   Es lässt sich also, in Absicht auf Freiheiten dieser Art, folgendes festsetzen. 

   Fürs Erste: Nur die Natur kann sie rechtfertigen. Sie dürfen mithin nicht das Werk der Wahl und einer absichtlichen Nachahmung sein; denn dem Willen, der immer nach moralischen Gesetzen gerichtet wird, können wir eine Begünstigung der Sinnlichkeit niemals vergeben. Sie müssen also Naivität sein. Um uns aber überzeugen zu können, dass sie dieses wirklich sind, müssen wir sie von allem Übrigen, was gleichfalls in der Natur gegründet ist, unterstützt und begleitet sehen, weil die Natur nur an der strengen Konsequenz, Einheit und Gleichförmigkeit ihrer Wirkungen zu erkennen ist. Nur einem Herzen, welches alle Künstelei überhaupt und mithin auch da, wo sie nützt, verabscheut, erlauben wir, sich da, wo sie drückt und einschränkt, davon los zu sprechen; nur einem Herzen, welches sich allen Fesseln der Natur unterwirft, erlauben wir, von den Freiheiten derselben Gebrauch zu machen. Alle übrigen Empfindungen eines solchen Menschen müssen folglich das Gepräge der Natürlichkeit an sich tragen; er muss wahr, einfach, frei, offen, gefühlvoll, gerade sein; alle Verstellung, alle List, alle Willkür, alle kleinliche Selbstsucht muss aus seinem Charakter, alle Spuren davon aus seinem Werk verbannt sein. 

   Fürs Zweite: Nur die schöne Natur kann dergleichen Freiheiten rechtfertigen. Sie dürfen mithin kein einseitiger Ausbruch der Begierde sein; denn alles, was aus bloßer Bedürftigkeit entspringt, ist verächtlich. Aus dem Ganzen und aus der Fülle menschlicher Natur müssen auch diese sinnlichen Energien hervorgehen. Sie müssen Humanität sein. Um aber beurteilen zu können, dass das Ganze menschlicher Natur und nicht bloß ein einseitiges und gemeines Bedürfnis der Sinnlichkeit sie fordert, müssen wir das Ganze, von dem sie einen einzelnen Zug ausmachen, dargestellt sehen. An sich selbst ist die sinnliche Empfindungsweise etwas Unschuldiges und Gleichgültiges. Sie missfällt uns nur darum an einem Menschen, weil sie tierisch ist und von einem Mangel wahrer, vollkommener Menschheit in ihm zeugt; sie beleidigt uns nur darum an einem Dichterwerk, weil ein solches Werk Anspruch macht, uns zu gefallen, mithin auch uns eines solchen Mangels fähig hält. Sehen wir aber in dem Menschen, der sich dabei überraschen lässt, die Menschheit in ihrem ganzen übrigen Umfang wirken, finden wir in dem Werk, worin man sich Freiheiten dieser Art genommen, alle Realitäten der Menschheit ausgedrückt, so ist jener Grund unseres Missfallens weggeräumt, und wir können uns mit unvergällter Freude an dem naiven Ausdruck wahrer und schöner Natur ergötzen. Derselbe Dichter also, der sich erlauben darf, uns zu Teilnehmern so niedrig menschlicher Gefühle zu machen, muss uns auf der andern Seite wieder zu allem, was groß und schön und erhaben menschlich ist, empor zu tragen wissen. 

   Und so hätten wir denn den Maßstab gefunden, dem wir jeden Dichter, der sich etwas gegen den Anstand herausnimmt und seine Freiheit in Darstellung der Natur bis zu dieser Grenze treibt, mit Sicherheit unterwerfen können. Sein Produkt ist gemein, niedrig, ohne alle Ausnahme verwerflich, sobald es kalt und sobald es leer ist, weil dieses einen Ursprung aus Absicht und aus einem gemeinen Bedürfnis und einen heillosen Anschlag auf unsere Begierden beweist. Es ist hingegen schön, edel und ohne Rücksicht auf alle Einwendungen einer frostigen Dezenz beifallswürdig, sobald es naiv ist und Geist mit Herz verbindet7).

   Wenn man mir sagt, dass unter dem hier gegebenen Maßstab die meisten französischen Erzählungen in dieser Gattung und die glücklichsten Nachahmungen derselben in Deutschland nicht zum besten bestehen möchten – dass dieses zum Teil auch der Fall mit manchen Produkten unsers anmutigsten und geistreichsten Dichters sein dürfte, seine Meisterstücke sogar nicht ausgenommen, so habe ich nichts darauf zu antworten. Der Ausspruch selbst ist nichts weniger als neu, und ich gebe hier nur die Gründe von einem Urteil an, welches längst schon von jedem feineren Gefühl über diese Gegenstände gefällt worden ist. Eben diese Prinzipien aber, welche in Rücksicht auf jene Schriften vielleicht allzu rigoristisch scheinen, möchten in Rücksicht auf einige andere Werke vielleicht zu liberal befunden werden; denn ich leugne nicht, dass die nämlichen Gründe, aus welchen ich die verführerischen Gemälde des römischen und deutschen Ovid, sowie eines Crebillon, Voltaire, Marmontel (der sich einen moralischen Erzähler nennt), Laclos und vieler andern, einer Entschuldigung durchaus für unfähig halte, mich mit den Elegien des römischen und deutschen Properz, ja, selbst mit manchem verschrienen Produkt des Diderot versöhnen; denn jene sind nur witzig, nur prosaisch, nur lüstern, diese sind poetisch, menschlich und naiv8).

 

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1) Dass ich die Benennung Satire, Elegie und Idylle in einem weiteren Sinn gebrauche als gewöhnlich geschieht, werde ich bei Lesern, die tiefer in die Sache dringen, kaum zu verantworten brauchen. Meine Absicht dabei ist keineswegs, die Grenzen zu verrücken, welche die bisherige Observanz sowohl der Satire und Elegie als der Idylle mit gutem Grund gesteckt hat; ich sehe bloß auf die in diesen Dichtungsarten herrschende Empfindungsweise und es ist ja bekannt genug, dass diese sich keineswegs in jene engen Grenzen einschließen lässt. Elegisch rührt uns nicht bloß die Elegie, welche ausschließlich so genannt wird; auch der dramatische und epische Dichter können uns auf elegische Weise bewegen. In der Messiade, in Thomsons Jahrszeiten, im verlorenen Paradies, im befreiten Jerusalem finden wir mehrere Gemälde, die sonst nur der Idylle, der Elegie, der Satire eigen sind. Ebenso, mehr oder weniger, fast in jedem pathetischen Gedicht. Dass ich aber die Idylle selbst zur elegischen Gattung rechne, scheint eher einer Rechtfertigung zu bedürfen. Man erinnere sich aber, dass hier nur von derjenigen Idylle die Rede ist, welche eine Spezies der sentimentalischen Dichtung ist, zu deren Wesen es gehört, dass die Natur der Kunst und das Ideal der Wirklichkeit entgegengesetzt werden. Geschieht dieses auch nicht ausdrücklich von dem Dichter und stellt er das Gemälde der unverdorbenen Natur oder des erfüllten Ideals rein und selbständig vor unsere Augen, so ist jener Gegensatz doch in seinem Herzen und wird sich auch ohne seinen Willen in jedem Pinselstrich verraten. Ja, wäre dieses nicht, so würde schon die Sprache, deren er sich bedienen muss, weil sie den Geist der Zeit an sich trägt, auch den Einfluss der Kunst erfahren, uns die Wirklichkeit mit ihren Schranken, die Kultur mit ihrer Künstelei in Erinnerung bringen; ja, unser eigenes Herz würde jenem Bild der reinen Natur die Erfahrung der Verderbnis gegenüberstellen und so die Empfindungsart, wenn auch der Dichter es nicht darauf angelegt hätte, in uns elegisch machen. Dies letztere ist so unvermeidlich, dass selbst der höchste Genuss, den die schönsten Werke der naiven Gattung aus alten und neuen Zeiten dem kultivierten Menschen gewähren, nicht lange rein bleibt, sondern früher oder später von einer elegischen Empfindung begleitet sein wird. Schließlich bemerke ich noch, dass die hier versuchte Einteilung, eben deswegen, weil sie sich bloß auf den Unterschied in der Empfindungsweise gründet, in der Einteilung der Gedichte selbst und der Ableitung der poetischen Arten ganz und gar nichts bestimmen soll; denn da der Dichter, auch in demselben Werk, keineswegs an dieselbe Empfindungsweise gebunden ist, so kann jene Einteilung nicht davon, sondern muss von der Form der Darstellung hergenommen werden. ­
2) Man lese z.B. das treffliche Gedicht, Carthon betitelt. ­
3) Man sehe das Gedicht dieses Namens in seinen Werken. ­
4) Ich sage musikalischen, um hier an die doppelte Verwandtschaft der Poesie mit der Tonkunst und mit der bildenden Kunst zu erinnern. Je nachdem nämlich die Poesie entweder einen bestimmten Gegenstand nachahmt, wie die bildenden Künste tun, oder je nachdem sie, wie die Tonkunst, bloß einen bestimmten Zustand des Gemüts hervorbringt, ohne dazu eines bestimmten Gegenstandes nötig zu haben, kann sie bildend (plastisch) oder musikalisch genannt werden. Der letztere Ausdruck bezieht sich also nicht bloß auf dasjenige, was in der Poesie, wirklich und der Materie nach, Musik ist, sondern überhaupt auf alle diejenigen Effekte derselben, die sie hervorzubringen vermag, ohne die Einbildungskraft durch ein bestimmtes Objekt zu beschränken; und in diesem Sinn nenne ich Klopstock vorzugsweise einen musikalischen Dichter. ­
5) „Der Hang“, wie Herr Adelung sie definiert, „zu rührenden, sanften Empfindungen ohne vernünftige Absicht und über das zugehörige Maß.“ – Herr Adelung ist sehr glücklich, dass er nur aus Absicht und gar nur aus vernünftiger Absicht empfindet. ­
6) Man soll zwar gewissen Lesern ihr dürftiges Vergnügen nicht verkümmern und was geht es zuletzt die Kritik an, wenn es Leute gibt, die sich an dem schmutzigen Witz des Herrn Blumauer erbauen und erlustigen können. Aber die Kunstrichter wenigstens sollten sich enthalten, mit einer gewissen Achtung von Produkten zu sprechen, deren Existenz dem guten Geschmack billig ein Geheimnis bleiben sollte. Zwar ist weder Talent noch Laune darin zu verkennen, aber desto mehr ist zu beklagen, dass beides nicht mehr gereinigt ist. Ich sage nichts von unsern deutschen Komödien; die Dichter malen die Zeit, in der sie leben. ­
7) Mit Herz: Denn die bloß sinnliche Glut des Gemäldes und die üppige Fülle der Einbildungskraft machen es noch lange nicht aus. Daher bleibt Ardinghello bei aller sinnlichen Energie und allem Feuer des Colorits immer nur eine sinnliche Karikatur ohne Wahrheit und ohne ästhetische ;Würde. Doch wird diese seltsame Produktion immer als ein Beispiel des beinahe poetischen Schwungs, den die bloße Begier zu nehmen fähig war, merkwürdig bleiben. ­
8) Wenn ich den unsterblichen Verfasser des Agathon, Oberon etc. in dieser Gesellschaft nenne, so muss ich ausdrücklich erklären, dass ich ihn keineswegs mit derselben verwechselt haben will. Seine Schilderungen, auch die bedenklichsten von dieser Seite, haben keine materielle Tendenz (wie sich ein neuerer etwas unbesonnener Kritiker vor kurzem zu sagen erlaubte); der Verfasser von Liebe um Liebe und von so vielen andern naiven und genialischen Werken, in welchen allen sich eine schöne und edle Seele mit unverkennbaren Zügen abbildet, kann eine solche Tendenz gar nicht haben. Aber er scheint mir von dem ganz eigenen Unglück verfolgt zu sein, dass dergleichen Schilderungen durch den Plan seiner Dichtungen notwendig gemacht werden. Der kalte Verstand, der den Plan entwarf, forderte sie ihm ab, und sein Gefühl scheint mir so weit entfernt, sie mit Vorliebe zu begünstigen, dass ich – in der Ausführung selbst immer noch den kalten Verstand zu erkennen glaube. Und gerade diese Kälte in der Darstellung ist ihnen in der Beurteilung schädlich, weil nur die naive Empfindung dergleichen Schilderungen ästhetisch* sowohl als moralisch rechtfertigen kann. Ob es aber dem Dichter erlaubt ist, sich bei Entwerfung des Plans einer solchen Gefahr in der Ausführung auszusetzen, und ob überhaupt ein Plan poetisch heißen kann, der, ich will dieses einmal zugeben, nicht kann ausgeführt werden, ohne die keusche Empfindung des Dichters sowohl als seines Lesers zu empören und ohne beide bei Gegenständen verweilen zu machen, von denen ein veredeltes Gefühl sich so gern entfernt – dies ist es, was ich bezweifle und worüber ich gern ein verständiges Urteil hören möchte.