Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Über naive und sentimentalische Dichtung

Idylle

   Es bleiben mir noch einige Worte über diese dritte Spezies sentimentalischer Dichtung zu sagen übrig, wenige Worte nur, denn eine ausführlichere Entwicklung derselben, deren sie vorzüglich bedarf, bleibt einer andern Zeit vorbehalten1).

   Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart. Weil diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der größeren Sozietät und mit einem gewissen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich schienen, so haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt und derselben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen. Man begreift aber wohl, dass diese Bestimmungen bloß zufällig sind, dass sie nicht als der Zweck der Idylle, bloß als das natürlichste Mittel zu demselben in Betrachtung kommen. Der Zweck selbst ist überall nur der, den Menschen im Stand der Unschuld, d.h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von außen darzustellen. 

   Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfang der Kultur statt, sondern er ist es auch, den die Kultur, wenn sie überall nur eine bestimmte Tendenz haben soll, als ihr letztes Ziel beabsichtigt. Die Idee dieses Zustandes allein und der Glaube an die mögliche Realität derselben kann den Menschen mit allen den Übeln versöhnen, denen er auf dem Weg der Kultur unterworfen ist, und, wäre sie bloß Schimäre, so würden die Klagen derer, welche die größere Societät und die Anbauung des Verstandes bloß als ein Übel verschreien und jenen verlassenen Stand der Natur für den wahren Zweck des Menschen ausgeben, vollkommen gegründet sein. Dem Menschen, der in der Kultur begriffen ist, liegt also unendlich viel daran, von der Ausführbarkeit jener Idee in der Sinnenwelt, von der möglichen Realität jenes Zustandes eine sinnliche Bekräftigung zu erhalten, und, da die wirkliche Erfahrung, weit entfernt, diesen Glauben zu nähren, ihn vielmehr beständig widerlegt, so kommt auch hier, wie in so vielen andern Fällen, das Dichtungsvermögen der Vernunft zu Hilfe, um jene Idee zur Anschauung zu bringen und in einem einzelnen Fall zu verwirklichen. 

   Zwar ist auch jene Unschuld des Hirtenstandes eine poetische Vorstellung, und die Einbildungskraft musste sich mithin auch dort schon schöpferisch beweisen; aber außerdem, dass die Aufgabe dort ungleich einfacher und leichter zu lösen war, so fanden sich in der Erfahrung selbst schon die einzelnen Züge vor, die sie nur auszuwählen und in ein Ganzes zu verbinden brauchte. Unter einem glücklichen Himmel, in den einfachen Verhältnissen des ersten Standes, bei einem beschränkten Wissen wird die Natur leicht befriedigt, und der Mensch verwildert nicht eher, als bis das Bedürfnis ihn ängstigt. Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldnes Alter; ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldnes Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger Poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert. Die Erfahrung selbst bietet also Züge genug zu dem Gemälde dar, welches die Hirten-Idylle behandelt. Deswegen bleibt aber diese immer eine schöne, eine erhebende Fiktion, und die Dichtungskraft hat in Darstellung derselben wirklich für das Ideal gearbeitet. Denn für den Menschen, der von der Einfalt der Natur einmal abgewichen und der gefährlichen Führung seiner Vernunft überliefert worden ist, ist es von unendlicher Wichtigkeit, die Gesetzgebung der Natur in einem reinen Exemplar wieder anzuschauen und sich von den Verderbnissen der Kunst in diesem treuen Spiegel wieder reinigen zu können. Aber ein Umstand findet sich dabei, der den ästhetischen* Wert solcher Dichtungen um sehr viel vermindert. Vor dem Anfang der Kultur gepflanzt, schließen sie mit den Nachteilen zugleich alle Vorteile derselben aus und befinden sich ihrem Wesen nach in einem notwendigen Streit mit derselben. Sie führen uns also theoretisch rückwärts, indem sie uns praktisch vorwärts führen und veredeln. Sie stellen unglücklicherweise das Ziel hinter uns, indem sie uns doch entgegen führen sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl des Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung einflößen. Weil sie nur durch Aufhebung aller Kunst und nur durch Vereinfachung der menschlichen Natur ihren Zweck ausführen, so haben sie, bei dem höchsten Gehalt für das Herz, allzu wenig für den Geist, und ihr einförmiger Kreis ist zu schnell geendigt. Wir können sie daher nur lieben und aufsuchen, wenn wir der Ruhe bedürftig sind, nicht wenn unsre Kräfte nach Bewegung und Tätigkeit streben. Sie können nur dem kranken Gemüt Heilung, dem gesunden keine Nahrung geben; sie können nicht beleben, nur besänftigen. Diesen in dem Wesen der Hirten-Idylle gegründeten Mangel hat alle Kunst der Poeten nicht gut machen können. Zwar fehlt es auch dieser Dichtart nicht an enthusiastischen Liebhabern, und es gibt Leser genug, die einen Amyntas und einen Daphnis den größten Meisterstücken der epischen und dramatischen Muse vorziehen können; aber bei solchen Lesern ist es nicht sowohl der Geschmack als das individuelle Bedürfnis, was über Kunstwerke richtet, und ihr Urteil kann folglich hier in keine Betrachtung kommen. Der Leser von Geist und Empfindung verkennt zwar den Wert solcher Dichtungen nicht, aber es fühlt sich seltner zu denselben gezogen und früher davon gesättigt. In dem rechten Moment des Bedürfnisses wirken sie dafür desto mächtiger; aber auf einen solchen Moment soll das wahre Schöne niemals zu warten brauchen, sondern ihn vielmehr erzeugen.

   Was ich hier an der Schäfer-Idylle tadle, gilt übrigens nur von der sentimentalischen; denn der naiven kann es nie an Gehalt fehlen, da er hier in der Form selbst schon enthalten ist. Jede Poesie nämlich muss einen unendlichen Gehalt haben, dadurch allein ist sie Poesie; aber sie kann diese Forderung auf zwei verschiedene Arten erfüllen. Sie kann ein Unendliches sein, der Form nach, wenn sie ihren Gegenstand mit allen seinen Grenzen darstellt, wenn sie ihn individualisiert; sie kann ein Unendliches sein, der Materie nach, wenn sie von ihrem Gegenstand alle Grenzen entfernt, wenn sie ihn idealisiert, also entweder durch eine absolute Darstellung oder durch Darstellung eines Absoluten. Den ersten Weg geht der naive, den zweiten der sentimentalische Dichter. Jener kann also seinen Gehalt nicht verfehlen, sobald er sich nur treu an die Natur hält, welche immer durchgängig begrenzt, d.h. der Form nach unendlich ist. Diesem hingegen steht die Natur mit ihrer durchgängigen Begrenzung im Weg, da er einen absoluten Gehalt in den Gegenstand legen soll. Der sentimentalische Dichter versteht sich also nicht gut auf seinen Vorteil, wenn er dem naiven Dichter seine Gegenstände abborgt, welche an sich selbst völlig gleichgültig sind und nur durch die Behandlung poetisch werden. Er setzt sich dadurch ganz unnötigerweise einerlei Grenzen mit jenem, ohne doch die Begrenzung vollkommen durchzuführen und in der absoluten Bestimmtheit der Darstellung mit demselben wetteifern zu können; er sollte sich also vielmehr gerade in dem Gegenstand von dem naiven Dichter entfernen, weil er diesem, was derselbe in der Form vor ihm voraus hat, nur durch den Gegenstand wieder abgewinnen kann. 

   Um hiervon die Anwendung auf die Schäfer-Idylle der sentimentalischen Dichter zu machen, so erklärt es sich nun, warum diese Dichtungen bei allem Aufwand von Genie und Kunst weder für das Herz noch für den Geist völlig befriedigend sind. Sie haben ein Ideal ausgeführt und doch die enge dürftige Hirtenwelt beibehalten, da sie doch schlechterdings entweder für das Ideal eine andere Welt, oder für die Hirtenwelt eine andere Darstellung hätten wählen sollen. Sie sind gerade so weit ideal, dass die Darstellung dadurch an individueller Wahrheit verliert, und sind wieder gerade umso viel individuell, dass der idealistische Gehalt darunter leidet. Ein Geßnerischer Hirte z.B. kann uns nicht als Natur, nicht durch Wahrheit der Nachahmung entzücken, denn dazu ist er ein zu ideales Wesen; ebenso wenig kann er uns als ein Ideal durch das Unendliche der Gedanken befriedigen, denn dazu ist er ein viel zu dürftiges Geschöpf. Er wird also zwar bis auf einen gewissen Punkt allen Klassen von Lesern ohne Ausnahme gefallen, weil er das Naive mit dem Sentimentalen zu vereinigen strebt und folglich den zwei entgegen gesetzten Forderungen, die an ein Gedicht gemacht werden können, in einem gewissen Grad Genüge leistet; weil aber der Dichter über der Bemühung beides zu vereinigen, keinem von beiden sein volles Recht erweist, weder ganz Natur noch ganz Ideal ist, so kann er eben deswegen vor einem strengen Geschmack nicht ganz bestehen, der in ästhetischen* Dingen nichts Halbes verzeihen kann. Es ist sonderbar, dass diese Halbheit sich auch bis auf die Sprache des genannten Dichters erstreckt, die zwischen Poesie und Prosa unentschieden schwankt, als fürchtete der Dichter, in gebundener Rede sich von der wirklichen Natur zu weit zu entfernen und in ungebundener den poetischen Schwung zu verlieren. Eine höhere Befriedigung gewährt Miltons herrliche Darstellung des ersten Menschenpaares und des Standes der Unschuld im Paradies; die schönste mir bekannte Idylle in der sentimentalischen Gattung. Hier ist die Natur edel, geistreich, zugleich voll Fläche und voll Tiefe; der höchste Gehalt der Menschheit ist in die anmutigste Form eingekleidet. 

   Also auch hier in der Idylle, wie in allen andern poetischen Gattungen, muss man einmal für allemal zwischen der Individualität und der Idealität eine Wahl treffen; denn beiden Forderungen zugleich Genüge leisten zu wollen, ist, solange man nicht am Ziel der Vollkommenheit steht, der sicherste Weg beide zugleich zu verfehlen. Fühlt sich der Moderne griechischen Geistes genug, um bei aller Widerspenstigkeit seines Stoffs mit den Griechen auf ihrem eigenen Feld, nämlich dem Feld naiver Dichtung, zu ringen, so tue er es ganz und tue es ausschließend und setze sich über jede Forderung des sentimentalischen Zeitgeschmacks hinweg. Erreichen zwar dürfte er seine Muster schwerlich; zwischen dem Original und dem glücklichsten Nachahmer wird immer eine merkliche Distanz offen bleiben; aber er ist auf diesem Wege doch gewiss, ein echt poetisches Werk zu erzeugen2). Treibt ihn hingegen der sentimentalische Dichtungstrieb zum Ideal, so verfolge er auch dieses ganz, in völliger Reinheit und stehe nicht eher als bei dem Höchsten still, ohne hinter sich zu schauen, ob auch die Wirklichkeit ihm nachkommen möchte. Er verschmähe den unwürdigen Ausweg, den Gehalt des Ideals zu verschlechtern, um es der menschlichen Bedürftigkeit anzupassen, und den Geist auszuschließen, um mit dem Herzen ein leichteres Spiel zu haben. Er führe uns nicht rückwärts in unsere Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann, als der Schlaf unserer Geisteskräfte, sondern führe uns vorwärts zu unserer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnt, die den Überwinder beglückt. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien* zurück kann, bis nach Elysium führt. 

   Der Begriff dieser Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetz, einer zur höchsten sittlichen Würde hinauf geläuterten Natur, kurz, es ist kein andrer, als das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewendet. Ihr Charakter besteht also darin, dass aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideal, der den Stoff zu der satirischen und elegischen Dichtung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben sei und mit demselben auch aller Streit der Empfindungen aufhöre. Ruhe wäre also der herrschende Eindruck dieser Dichtungsart, aber Ruhe der Vollendung, nicht der Trägheit; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht, nicht aus dem Stillstand der Kräfte, die aus der Fülle, nicht aus der Leerheit fließt und von dem Gefühl eines unendlichen Vermögens begleitet wird. Aber eben darum, weil aller Widerstand hinweg fällt, so wird es hier ungleich schwieriger, als in den zwei vorigen Dichtungsarten, die Bewegung hervorzubringen, ohne welche doch überall keine poetische Wirkung sich denken lässt. Die höchste Einheit muss sein, aber sie darf der Mannigfaltigkeit nichts nehmen; das Gemüt muss befriedigt werden, aber ohne dass das Streben darum aufhöre. Die Auflösung dieser Frage ist es eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leisten hat.

   Über das Verhältnis beider Dichtungsarten zueinander und zu dem poetischen Ideal ist Folgendes festgesetzt worden. 

   Dem naiven Dichter hat die Natur die Gunst erzeigt, immer als eine ungeteilte Einheit zu wirken, in jedem Moment ein selbständiges und vollendetes Ganze zu sein und die Menschheit, ihrem vollen Gehalt nach, in der Wirklichkeit darzustellen. Dem sentimentalischen hat sie die Macht verliehen oder vielmehr einen lebendigen Trieb eingeprägt, jene Einheit, die durch Abstraktion* in ihm aufgehoben worden, aus sich selbst wieder herzustellen, die Menschheit in sich vollständig zu machen und aus einem beschränkten Zustand zu einem unendlichen überzugehen3). Der menschlichen Natur ihren völligen Ausdruck zu geben, ist aber die gemeinschaftliche Aufgabe beider, und ohne das würden sie gar nicht Dichter heißen können; aber der naive Dichter hat vor dem sentimentalischen immer die sinnliche Realität voraus, indem er dasjenige als eine wirkliche Tatsache ausführt, was der andere nur zu erreichen strebt. Und das ist es auch, was jeder bei sich erfährt, wenn er sich beim Genuss naiver Dichtungen beobachtet. Er fühlt alle Kräfte seiner Menschheit in einem solchen Augenblick tätig, er bedarf nichts, er ist ein Ganzes in sich selbst; ohne etwas in seinem Gefühl zu unterscheiden, freut er sich zugleich seiner geistigen Tätigkeit und seines sinnlichen Lebens. Eine ganz andere Stimmung ist es, in die ihn der sentimentalische Dichter versetzt. Hier fühlt er bloß einen lebendigen Trieb, die Harmonie in sich zu erzeugen, welche er dort wirklich empfand, ein Ganzes aus sich zu machen, die Menschheit in sich zu einem vollendeten Ausdruck zu bringen. Daher ist hier das Gemüt in Bewegung, es ist angespannt, es schwankt zwischen streitenden Gefühlen, da es dort ruhig, aufgelöst, einig mit sich selbst und vollkommen befriedigt ist. 

   Aber wenn es der naive Dichter dem sentimentalischen auf der einen Seite an Realität abgewinnt und dasjenige zur wirklichen Existenz bringt, wonach dieser nur einen lebendigen Trieb erwecken kann, so hat letzterer wieder den großen Vorteil über den ersteren, dass er dem Trieb einen größeren Gegenstand zu geben imstande ist, als jener geleistet hat und leisten konnte. Alle Wirklichkeit, wissen wir, bleibt hinter dem Ideal zurück; alles Existierende hat seine Schranken, aber der Gedanke ist grenzenlos. Durch diese Einschränkung, der alles Sinnliche unterworfen ist, leidet also auch der naive Dichter, da hingegen die unbedingte Freiheit des Ideenvermögens dem sentimentalischen zustatten kommt. Jener erfüllt zwar also seine Aufgabe, aber die Aufgabe selbst ist etwas Begrenztes; dieser erfüllt zwar die seinige nicht ganz, aber die Aufgabe ist etwas Unendliches. Auch hierüber kann einen jeden seine eigene Erfahrung belehren. Von dem naiven Dichter wendet man sich mit Leichtigkeit und Lust zu der lebendigen Gegenwart; der sentimentalische wird immer, auf einige Augenblicke, für das wirkliche Leben verstimmen. Das macht, unser Gemüt ist hier durch das Unendliche der Idee gleichsam über seinen natürlichen Durchmesser ausgedehnt worden, dass nichts Vorhandenes es mehr ausfüllen kann. Wir versinken lieber betrachtend in uns selbst, wo wir für den aufgeregten Trieb in der Ideenwelt Nahrung finden, anstatt dass wir dort aus uns heraus nach sinnlichen Gegenständen streben. Die sentimentalische Dichtung ist die Geburt der Abgezogenheit und Stille, und dazu ladet sie auch ein; die naive ist das Kind des Lebens, und in das Leben führt sie auch zurück.

   Ich habe die naive Dichtung eine Gunst der Natur genannt, um zu erinnern, dass die Reflexion keinen Anteil daran habe. Ein glücklicher Wurf ist sie, keiner Verbesserung bedürftig, wenn er gelingt, aber auch keiner fähig, wenn er verfehlt wird. In der Empfindung ist das ganze Werk des naiven Genies absolviert: Hier liegt seine Stärke und seine Grenze. Hat es also nicht gleich dichterisch, das heißt, nicht gleich vollkommen menschlich empfunden, so kann dieser Mangel durch keine Kunst mehr nachgeholt werden. Die Kritik kann ihm nur zu einer Einsicht des Fehlers verhelfen, aber sie kann keine Schönheit an dessen Stelle setzen. Durch seine Natur muss das naive Genie alles tun, durch seine Freiheit vermag es wenig; und es wird seinen Begriff erfüllen, sobald nur die Natur in ihm nach einer innern Notwendigkeit wirkt. Nun ist zwar alles notwendig, was durch Natur geschieht, und das ist auch jedes noch so verunglückte Produkt des naiven Genies, von welchem nichts mehr entfernt ist als Willkürlichkeit; aber ein andres ist die Nötigung des Augenblicks, ein andres die innere Notwendigkeit des Ganzen. Als ein Ganzes betrachtet, ist die Natur selbständig und unendlich; in jeder einzelnen Wirkung hingegen ist sie bedürftig und beschränkt. Dieses gilt daher auch von der Natur des Dichters. Auch der glücklichste Moment, in welchem sich derselbe befinden mag, ist von einem vorhergehenden abhängig; es kann ihm daher auch nur eine bedingte Notwendigkeit beigelegt werden. Nun ergeht aber die Aufgabe an den Dichter, einen einzelnen Zustand dem menschlichen Ganzen gleich zu machen, folglich ihn absolut und notwendig auf sich selbst zu gründen. Aus dem Moment der Begeisterung muss also jede Spur eines zeitlichen Bedürfnisses entfernt bleiben, und der Gegenstand selbst, so beschränkt er auch sei, darf den Dichter nicht beschränken. Man begreift wohl, dass dieses nur insofern möglich ist, als der Dichter schon eine absolute Freiheit und Fülle des Vermögens zu dem Gegenstand mitbringt, und als er geübt ist, alles mit seiner ganzen Menschheit zu umfassen. Diese Übung kann er aber nur durch die Welt erhalten, in der er lebt und von der er unmittelbar berührt wird. Das naive Genie steht also in einer Abhängigkeit von der Erfahrung, welche das sentimentalische nicht kennt. Dieses, wissen wir, fängt seine Operation erst da an, wo jenes die seinige beschließt; seine Stärke besteht darin, einen mangelhaften Gegenstand aus sich selbst heraus zu ergänzen und sich durch eigene Macht aus einem begrenzten Zustand in einen Zustand der Freiheit zu versetzen. Das naive Dichtergenie bedarf also eines Beistandes von außen, da das sentimentalische sich aus sich selbst nährt und reinigt; es muss eine formreiche Natur, eine dichterische Welt, eine naive Menschheit um sich her erblicken, da es schon in der Sinnenempfindung sein Werk zu vollenden hat. Fehlt ihm nun dieser Beistand von außen, sieht es sich von einem geistlosen Stoff umgeben, so kann nur zweierlei geschehen. Es tritt entweder, wenn die Gattung bei ihm überwiegend ist, aus seiner Art und wird sentimentalistisch, um nur dichterisch zu sein, oder, wenn der Artcharakter die Obermacht behält, es tritt aus seiner Gattung und wird gemeine Natur, um nur Natur zu bleiben. Das erste dürfte der Fall mit den vornehmsten sentimentalischen Dichtern in der alten römischen Welt und in neueren Zeiten sein. In einem andern Weltalter geboren, unter einen andern Himmel verpflanzt, würden sie, die uns jetzt durch Ideen rühren, durch individuelle Wahrheit und naive Schönheit bezaubert haben. Vor dem zweiten möchte sich schwerlich ein Dichter vollkommen schützen können, der in einer gemeinen Welt die Natur nicht verlassen kann. 

   Die wirkliche Natur nämlich: Aber von dieser kann die wahre Natur, die das Subjekt naiver Dichtung ist, nicht sorgfältig genug unterschieden werden. Wirkliche Natur existiert überall, aber wahre Natur ist desto seltener; denn dazu gehört eine innere Notwendigkeit des Daseins. Wirkliche Natur ist jeder noch so gemeine Ausbruch der Leidenschaft, er mag auch wahre Natur sein, aber eine wahre menschliche ist er nicht: Denn diese erfordert einen Anteil des selbständigen Vermögens an jeder Äußerung, dessen Ausdruck jedes Mal Würde ist. Wirkliche menschliche Natur ist jede moralische Niederträchtigkeit, aber wahre menschliche Natur ist sie hoffentlich nicht; denn diese kann nie anders als edel sein. Es ist nicht zu übersehen, zu welchen Abgeschmacktheiten diese Verwechslung wirklicher Natur mit wahrer menschlicher Natur in der Kritik wie in der Ausübung verleitet hat, welche Trivialitäten man in der Poesie gestattet, ja lobpreist, weil sie, leider! wirkliche Natur sind, wie man sich freut, Karikaturen, die einen schon aus der wirklichen Welt herausängstigen, in der dichterischen sorgfältig aufbewahrt und nach dem Leben konterfeit zu sehen. Freilich darf der Dichter auch die schlechte Natur nachahmen, und bei dem satirischen bringt dieses ja der Begriff schon mit sich; aber in diesem Fall muss seine eigene schöne Natur den Gegenstand übertragen und der gemeine Stoff den Nachahmer nicht mit sich zu Boden ziehen. Ist nur er selbst, in dem Moment wenigstens, wo er schildert, wahre menschliche Natur, so hat es nichts zu sagen, was er uns schildert; aber auch schlechterdings nur von einem solchen können wir ein treues Gemälde der Wirklichkeit vertragen. Wehe uns Lesern, wenn die Fratze sich in der Fratze spiegelt, wenn die Geißel der Satire in die Hände desjenigen fällt, dem die Natur eine viel ernstlichere Peitsche zu führen bestimmte, wenn Menschen, die, entblößt von allem, was man poetischen Geist nennt, nur das Affentalent gemeiner Nachahmung besitzen, es auf Kosten unsres Geschmacks gräulich und schrecklich üben! 

   Aber selbst dem wahrhaft naiven Dichter, sagte ich, kann die gemeine Natur gefährlich werden; denn endlich ist jene schöne Zusammenstimmung zwischen Empfinden und Denken, welche den Charakter desselben ausmacht, doch nur eine Idee, die in der Wirklichkeit nie ganz erreicht wird; und auch bei den glücklichsten Genies aus dieser Klasse wird die Empfänglichkeit die Selbsttätigkeit immer um etwas überwiegen. Die Empfänglichkeit aber ist immer mehr oder weniger von dem äußern Eindruck abhängig, und nur eine anhaltende Regsamkeit des produktiven Vermögens, welche von der menschlichen Natur nicht zu erwarten ist, würde verhindern können, dass der Stoff nicht zuweilen eine blinde Gewalt über die Empfänglichkeit ausübte. Sooft aber dies der Fall ist, wird aus einem dichterischen Gefühl ein gemeines4).

   Kein Genie aus der naiven Klasse, von Homer bis auf Bodmer herab, hat diese Klippe ganz vermieden; aber freilich ist die denen am gefährlichsten, die sich einer gemeinen Natur von außen zu erwehren haben, oder die durch Mangel an Disziplin von innen verwildert sind. Jenes ist Schuld, dass selbst gebildete Schriftsteller nicht immer von Plattheiten frei bleiben, und dieses verhinderte schon manches herrliche Talent, sich des Platzes zu bemächtigen, zu dem die Natur es berufen hatte. Der Komödiendichter, dessen Genie sich am meisten von dem wirklichen Leben nährt, ist eben daher auch am meisten der Plattheit ausgesetzt, wie auch das Beispiel des Aristophanes und Plautus und fast alles der späteren Dichter lehrt, die in die Fußtapfen derselben getreten sind. Wie tief lässt uns nicht der erhabene Shakespeare zuweilen sinken, mit welchen Trivialitäten quälen uns nicht Lope de Vega, Molière, Regnard, Goldoni, in welchen Schlamm zieht uns nicht Holberg hinab? Schlegel, einer der geistreichsten Dichter unsers Vaterlandes, an dessen Genie es nicht lag, dass er nicht unter den ersten in dieser Gattung glänzt, Gellert, ein wahrhaft naiver Dichter, sowie auch Rabener, Lessing selbst, wenn ich ihn anders hier nennen darf, Lessing, der gebildete Zögling der Kritik und ein so wachsamer Richter seiner selbst – wie büßen sie nicht alle, mehr oder weniger, den geistlosen Charakter der Natur, die sie zum Stoff ihrer Satire erwählten. Von den neuesten Schriftstellern in dieser Gattung nenne ich keinen, da ich keinen ausnehmen kann. 

   Und nicht genug, dass der naive Dichtergeist in Gefahr ist, sich einer gemeinen Wirklichkeit allzu sehr zu nähern – durch die Leichtigkeit, mit der er sich äußert, und durch eben diese größere Annäherung an das wirkliche Leben macht er noch dem gemeinen Nachahmer Mut, sich im poetischen Feld zu versuchen. Die sentimentalische Poesie, wiewohl von einer andern Seite gefährlich genug, wie ich hernach zeigen werde, hält wenigstens dieses Volk in Entfernung, weil es nicht jedermanns Sache ist, sich zu Ideen zu erheben; die naive Poesie aber bringt es auf den Glauben, als wenn schon die bloße Empfindung, der bloße Humor, die bloße Nachahmung wirklicher Natur den Dichter ausmache. Nichts aber ist widerwärtiger, als wenn der platte Charakter sich einfallen lässt, liebenswürdig und naiv sein zu wollen – er, der sich in alle Hüllen der Kunst stecken sollte, um seine ekelhafte Natur zu verbergen. Daher denn auch die unsäglichen Platituden, welche sich die Deutschen unter dem Titel von naiven und scherzhaften Liedern vorsingen lassen und an denen sie sich bei einer wohl besetzten Tafel ganz unendlich zu belustigen pflegen. Unter dem Freibrief der Laune, der Empfindung duldet man diese Armseligkeiten – aber einer Laune, einer Empfindung, die man nicht sorgfältig genug verbannen kann. Die Musen an der Pleiße bilden hier besonders einen eigenen kläglichen Chor*, und ihnen wird von den Kamönen*an der Leine und Elbe in nicht bessern Akkorden geantwortet5). So insipid diese Scherze sind, so kläglich lässt sich der Affekt* auf unsern tragischen Bühnen hören, welcher, anstatt die wahre Natur nachzuahmen, nur den geistlosen und unedlen Ausdruck der wirklichen erreicht, so dass es uns nach einem solchen Tränenmahl gerade zumut ist, als wenn wir einen Besuch in Spitälern abgelegt oder Salzmanns menschliches Elend gelesen hätten. Noch viel schlimmer steht es um die satirische Dichtkunst und um den komischen Roman insbesondre, die schon ihrer Natur nach dem gemeinen Leben so nahe liegen und daher billig, wie jeder Grenzposten, gerade in den besten Händen sein sollten. Derjenige hat wahrlich den wenigsten Beruf, der Maler seiner Zeit zu werden, der das Geschöpf und die Karikatur derselben ist; aber da es etwas so Leichtes ist, irgendeinen lustigen Charakter, wär’ es auch nur einen dicken Mann, unter seiner Bekanntschaft aufzujagen und die Fratze mit einer groben Feder auf dem Papier abzureißen, so fühlen zuweilen auch die geschworenen Feinde alles poetischen Geistes den Kitzel, in diesem Fach zu stümpern und einen Zirkel von würdigen Freunden mit der schönen Geburt zu ergötzen. Ein rein gestimmtes Gefühl freilich wird nie in Gefahr sein, diese Erzeugnisse einer gemeinen Natur mit den geistreichen Früchten des naiven Genies zu verwechseln; aber an dieser reinen Stimmung des Gefühls fehlt es eben, und in den meisten Fällen will man bloß ein Bedürfnis befriedigt haben, ohne dass der Geist eine Forderung machte. Der so falsch verstandene, wiewohl an sich wahre Begriff, dass man sich bei Werken des schönen Geistes erhole, trägt das Seinige redlich zu dieser Nachsicht bei, wenn man es anders Nachsicht nennen kann, wo nichts Höheres geahnt wird und der Leser wie der Schriftsteller auf gleiche Art ihre Rechnung finden. Die gemeine Natur nämlich, wenn sie angespannt worden, kann sich nur in der Leerheit erholen, und selbst ein hoher Grad von Verstand, wenn er nicht von einer gleichmäßigen Kultur der Empfindungen unterstützt ist, ruht von seinem Geschäft nur in einem geistlosen Sinnengenuss aus. 

   Wenn sich das dichtende Genie über alle zufälligen Schranken, welche von jedem bestimmten Zustand unzertrennlich sind, mit freier Selbsttätigkeit muss erheben können, um die menschliche Natur in ihrem absoluten Vermögen zu erreichen, so darf es sich doch auf der andern Seite nicht über die notwendigen Schranken hinwegsetzen, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich bringt; denn das Absolute, aber nur innerhalb der Menschheit, ist seine Aufgabe und seine Sphäre. Wir haben gesehen, dass das naive Genie zwar nicht in Gefahr ist, diese Sphäre zu überschreiten, wohl aber, sie nicht ganz zu erfüllen, wenn es einer äußern Notwendigkeit oder dem zufälligen Bedürfnis des Augenblicks zu sehr auf Unkosten der innern Notwendigkeit Raum gibt. Das sentimentalische Genie hingegen ist der Gefahr ausgesetzt, über dem Bestreben, alle Schranken von ihr zu entfernen, die menschliche Natur ganz und gar aufzuheben und sich nicht bloß, was es darf und soll, über jede bestimmte und begrenzte Wirklichkeit hinweg zu der absoluten Möglichkeit zu erheben – oder zu idealisieren – sondern über die Möglichkeit selbst noch hinauszugehen – oder zu schwärmen. Dieser Fehler der Überspannung ist ebenso in der spezifischen Eigentümlichkeit seines Verfahrens, wie der entgegen gesetzte der Schlaffheit in der eigentümlichen Handlungsweise des naiven gegründet. Das naive Genie nämlich lässt die Natur in sich unumschränkt walten, und da die Natur in ihren einzelnen zeitlichen Äußerungen immer abhängig und bedürftig ist, so wird das naive Gefühl nicht immer exaltiert genug bleiben, um den zufälligen Bestimmungen des Augenblicks widerstehen zu können. Das sentimentalische Genie hingegen verlässt die Wirklichkeit, um zu Ideen aufzusteigen und mit freier Selbsttätigkeit seinen Stoff zu beherrschen; da aber die Vernunft ihrem Gesetz nach immer zum Unbedingten strebt, so wird das sentimentalische Genie nicht immer nüchtern genug bleiben, um sich ununterbrochen und gleichförmig innerhalb der Bedingungen zu halten, welche der Begriff einer menschlichen Natur mit sich führt, und an welche die Vernunft auch in ihrem freiesten Wirken hier immer gebunden bleiben muss. Dieses könnte nur durch einen verhältnismäßigen Grad von Empfänglichkeit geschehen, welche aber in dem sentimentalischen Dichtergeist von der Selbsttätigkeit ebenso sehr überwogen wird, als sie in dem naiven die Selbsttätigkeit überwiegt. Wenn man daher an den Schöpfungen des naiven Genies zuweilen den Geist vermisst, so wird man bei den Geburten des sentimentalischen oft vergebens nach dem Gegenstand fragen. Beide werden also, wiewohl auf ganz entgegen gesetzte Weise, in den Fehler der Leerheit verfallen; denn ein Gegenstand ohne Geist und ein Geistesspiel ohne Gegenstand sind beide ein Nichts in dem ästhetischen* Urteil. 

   Alle Dichter, welche ihren Stoff zu einseitig aus der Gedankenwelt schöpfen und mehr durch eine innere Ideenfülle als durch den Drang der Empfindung zum poetischen Bilden getrieben werden, sind mehr oder weniger in Gefahr, auf diesen Abweg zu geraten. Die Vernunft zieht bei ihren Schöpfungen die Grenze der Sinnenwelt viel zu wenig zu Rat, und der Gedanke wird immer weiter getrieben, als die Erfahrung ihm folgen kann. Wird er aber so weit getrieben, als ihm nicht nur keine bestimmte Erfahrung mehr entsprechen kann (denn bis dahin darf und muss das Idealschöne gehen), sondern dass er den Bedingungen aller möglichen Erfahrung überhaupt widerstreitet, und dass folglich, um ihn wirklich zu machen, die menschlichen Natur ganz und gar verlassen werden müsste, dann ist es nicht mehr ein poetischer, sondern ein überspannter Gedanke – vorausgesetzt nämlich, dass er sich als darstellbar und dichterisch angekündigt habe; denn hat er dieses nicht, so ist es schon genug, wenn er sich nur nicht selbst widerspricht. Widerspricht er sich selbst, so ist er nicht mehr Überspannung, sondern Unsinn; denn was überhaupt nicht ist, das kann auch sein Maß nicht überschreiten. Kündigt er sich aber gar nicht als ein Objekt für die Einbildungskraft an, so ist er ebenso wenig Überspannung; denn das bloße Denken ist grenzenlos, und, was keine Grenze hat, kann auch keine überschreiten. Überspannt kann also nur dasjenige genannt werden, was zwar nicht die logische, aber die sinnliche Wahrheit verletzt und auf diese doch Anspruch macht. Wenn daher ein Dichter den unglücklichen Einfall hat, Naturen, die schlechthin übermenschlich sind und auch nicht anders vorgestellt werden dürfen, zum Stoff seiner Schilderung zu erwählen, so kann er sich vor dem Überspannten nur dadurch sicher stellen, dass er das Poetische aufgibt und es gar nicht einmal unternimmt, seinen Gegenstand durch die Einbildungskraft ausführen zu lassen. Denn täte er dieses, so würde entweder diese ihre Grenzen auf den Gegenstand übertragen und aus einem absoluten Objekt ein beschränktes menschliches machen (was z.B. alle griechischen Gottheiten sind und auch sein sollen), oder der Gegenstand würde der Einbildungskraft ihre Grenzen nehmen, d.h., er würde sie aufheben, worin eben das Überspannte besteht.

   Man muss die überspannte Empfindung von dem Überspannten in der Darstellung unterscheiden; nur von der ersten ist hier die Rede. Das Objekt der Empfindung kann unnatürlich sein, aber sie selbst ist Natur und muss daher auch die Sprache derselben führen. Wenn also das Überspannte in der Empfindung aus Wärme des Herzens und einer wahrhaft dichterischen Anlage fließen kann, so zeugt das Überspannteste in der Darstellung jederzeit von einem kalten Herzen und sehr oft von einem poetischen Unvermögen. Es ist also kein Fehler, vor welchem das sentimentalische Dichtergenie gewarnt werden müsste, sondern der bloß dem unberufenen Nachahmer desselben droht; daher er auch die Begleitung des Platten, Geistlosen, ja des Niedrigen keineswegs verschmäht. Die überspannte Empfindung ist gar nicht ohne Wahrheit, und als wirkliche Empfindung muss sie auch notwendig einen realen Gegenstand haben. Sie lässt daher auch, weil sie Natur ist, einen einfachen Ausdruck zu und wird vom Herzen kommend auch das Herz nicht verfehlen. Aber da ihr Gegenstand nicht aus der Natur schöpft, sondern durch den Verstand einseitig und künstlich hervorgebracht ist, so hat er auch bloß logische Realität, und die Empfindung ist also nicht rein menschlich. Es ist keine Täuschung, was Heloise für Abälard, was Petrarch für seine Laura, was St. Preux für seine Julie, was Werther für seine Lotte fühlt, und was Agathon, Phanias, Peregrinus Proteus (den Wielandschen meine ich) für ihre Ideale empfinden: Die Empfindung ist wahr, nur der Gegenstand ist ein gemachter und liegt außerhalb der menschlichen Natur. Hätte sich ihr Gefühl bloß an die sinnliche Wahrheit der Gegenstände gehalten, so würde es jenen Schwung nicht haben nehmen können; hingegen würde ein bloß willkürliches Spiel der Phantasie ohne allen innern Gehalt auch nicht imstande gewesen sein, das Herz zu bewegen, denn das Herz wird nur durch Vernunft bewegt. Diese Überspannung verdient also Zurechtweisung, nicht Verachtung, und wer darüber spottet, mag sich wohl prüfen, ob er nicht vielleicht aus Herzlosigkeit so klug, aus Vernunftmangel so verständig ist. So ist auch die überspannte Zärtlichkeit im Punkt der Galanterie und der Ehre, welche die Ritterromane, besonders die spanischen, charakterisiert, so ist die skrupulose, bis zur Kostbarkeit getriebene Delikatesse in den französischen und englischen sentimentalischen Romanen (von der besten Gattung) nicht nur subjektiv wahr, sondern auch in objektiver Rücksicht nicht gehaltlos; es sind echte Empfindungen, die wirklich eine moralische Quelle haben und die nur darum verwerflich sind, weil sie die Grenzen menschlicher Wahrheit überschreiten. Ohne jene moralische Realität – wie wäre es möglich, dass sie mit solcher Stärke und Innigkeit könnten mitgeteilt werden, wie doch die Erfahrung lehrt. Dasselbe gilt auch von der moralischen und religiösen Schwärmerei und von der exaltierten Freiheits- und Vaterlandsliebe. Da die Gegenstände dieser Empfindungen immer Ideen sind und in der äußern Erfahrung nicht erscheinen (denn was z.B. den politischen Enthusiasten bewegt, ist nicht, was er sieht, sondern was er denkt), so hat die selbsttätige Einbildungskraft eine gefährliche Freiheit und kann nicht, wie in andern Fällen, durch die sinnliche Gegenwart ihres Objekts in ihre Grenzen zurückgewiesen werden. Aber weder der Mensch überhaupt noch der Dichter insbesondere darf sich der Gesetzgebung der Natur anders entziehen, als um sich unter die entgegen gesetzte der Vernunft zu begeben; nur für das Ideal darf er die Wirklichkeit verlassen, denn an einem von diesen beiden Ankern muss die Freiheit befestigt sein. Aber der Weg von der Erfahrung zum Ideal ist so weit, und dazwischen liegt die Phantasie mit ihrer zügellosen Willkür. Es ist daher unvermeidlich, dass der Mensch überhaupt, wie der Dichter insbesondere, wenn er sich durch die Freiheit seines Verstandes aus der Herrschaft der Gefühle begibt, ohne durch Gesetze der Vernunft dazu getrieben zu werden, d.h., wenn er die Natur aus bloßer Freiheit verlässt, solang ohne Gesetz ist, mithin der Phantasterei zum Raub dahin gegeben wird. 

   Dass sowohl ganze Völker als einzelne Menschen, welche der sichern Führung der Natur sich entzogen haben, sich wirklich in diesem Fall befinden, lehrt die Erfahrung, und eben diese stellt auch Beispiele genug von einer ängstlichen Verirrung in der Dichtkunst auf. Weil der echte sentimentalische Dichtungstrieb, um sich zum Idealen zu erheben, über die Grenzen wirklicher Natur hinausgehen muss, so geht der unechte über jede Grenze überhaupt hinaus und überredet sich, als wenn schon das wilde Spiel der Imagination die poetische Begeisterung ausmache. Dem wahrhaften Dichtergenie, welches die Wirklichkeit nur um der Idee willen verlässt, kann dieses nie oder doch nur in Momenten begegnen, wo es sich selbst verloren hat; da es hingegen durch seine Natur selbst zu einer überspannten Empfindungsweise verführt werden kann. Es kann aber durch sein Beispiel andere zur Phantasterei verführen, weil Leser von reger Phantasie und schwachem Verstand ihm nur die Freiheiten absehen, die es sich gegen die wirkliche Natur herausnimmt, ohne ihm bis zu seiner hohen innern Notwendigkeit folgen zu können. Es geht dem sentimentalischen Genie hier, wie wir bei dem naiven gesehen haben. Weil dieses durch seine Natur alles ausführte, was es tut, so will der gemeine Nachahmer an seiner eigenen Natur keine schlechtere Führerin haben. Meisterstücke aus der naiven Gattung werden daher gewöhnlich die plattesten und schmutzigsten Abdrücke gemeiner Natur, und Hauptwerke aus der sentimentalischen ein zahlreiches Heer phantastischer Produktionen zu ihrem Gefolge haben, wie dieses in der Literatur eines jeden Volkes leicht nachzuweisen ist. 

   Es sind in Rücksicht auf Poesie zwei Grundsätze im Gebrauch, die an sich völlig richtig sind, aber in der Bedeutung, worin man sie gewöhnlich nimmt, einander gerade aufheben. Von dem ersten, „dass die Dichtkunst zum Vergnügen und zur Erholung diene“, ist schon oben gesagt worden, dass er der Leerheit und Platitude in poetischen Darstellungen nicht wenig günstig sei; durch den andern Grundsatz, „dass sie zur moralischen Veredlung des Menschen diene“, wird das Überspannte in Schutz genommen. Es ist nicht überflüssig, beide Prinzipien, welchen man so häufig im Mund führt, oft so ganz unrichtig auslegt und so ungeschickt anwendet, etwas näher zu beleuchten.

   Wir nennen Erholung den Übergang von einem gewaltsamen Zustand zu demjenigen, der uns natürlich ist. Es kommt mithin hier alles darauf an, worin wir unsern natürlichen Zustand setzen und was wir unter einem gewaltsamen verstehen. Setzen wir jenen lediglich in ein ungebundenes Spiel unsrer physischen Kräfte und in eine Befreiung von jedem Zwang, so ist jede Vernunfttätigkeit, weil jede einen Widerstand gegen die Sinnlichkeit ausübt, eine Gewalt, die uns geschieht, und Geistesruhe, mit sinnlicher Bewegung verbunden, ist das eigentliche Ideal der Erholung. Setzen wir hingegen unsern natürlichen Zustand in ein unbegrenztes Vermögen zu jeder menschlichen Äußerung und in die Fähigkeit, über alle unsre Kräfte mit gleicher Freiheit disponieren zu können, so ist jede Trennung und Vereinzelung dieser Kräfte ein gewaltsamer Zustand, und das Ideal der Erholung ist die Wiederherstellung unsers Naturganzen nach einseitigen Spannungen. Das erste Ideal wird also lediglich durch das Bedürfnis der sinnlichen Natur, das zweite wird durch die Selbständigkeit der menschlichen aufgegeben. Welche von diesen beiden Arten der Erholung die Dichtkunst gewähren dürfe und müsse, möchte in der Theorie wohl keine Frage sein; denn niemand wird gerne das Ansehen haben wollen, als ob er das Ideal der Menschheit dem Ideal der Tierheit nachzusetzen versucht sein könne. Nichtsdestoweniger sind die Forderungen, welche man im wirklichen Leben an poetische Werke zu machen pflegt, vorzugsweise von dem sinnlichen Ideal hergenommen, und in den meisten Fällen wird nach diesem – zwar nicht die Achtung bestimmt, die man diesen Werken erweist, aber doch die Neigung entschieden und der Liebling gewählt. Der Geisteszustand der meisten Menschen ist auf einer Seite anspannende und erschöpfende Arbeit, auf der andern erschlaffender Genuss. Jene aber, wissen wir, macht das sinnliche Bedürfnis nach Geistesruhe und nach einem Stillstand des Wirkens ungleich dringender als das moralische Bedürfnis nach Harmonie und nach einer absoluten Freiheit des Wirkens, weil vor allen Dingen erst die Natur befriedigt sein muss, ehe der Geist eine Forderung machen kann; dieser bindet und lähmt die moralischen Triebe selbst, welche jene Forderung aufwerfen mussten. Nichts ist daher der Empfänglichkeit für das wahre Schöne nachteiliger, als diese beiden nur allzu gewöhnlichen Gemütsstimmungen unter den Menschen, und es erklärt sich daraus, warum so gar wenige, selbst von den bessern, in ästhetischen Dingen ein richtiges Urteil haben. Die Schönheit ist das Produkt der Zusammenstimmung zwischen dem Geist und den Sinnen; es spricht zu allen Vermögen des Menschen zugleich und kann daher nur unter der Voraussetzung eines vollständigen und freien Gebrauchs aller seiner Kräfte empfunden und gewürdigt werden. Einen offenen Sinn, ein erweitertes Herz, einen frischen und ungeschwächten Geist muss man dazu mitbringen, seine ganze Natur muss man beisammen haben, welches keineswegs der Fall derjenigen ist, die durch abstraktes Denken in sich selbst geteilt, durch kleinliche Geschäftsformeln eingeengt, durch anstrengendes Aufmerken ermattet sind. Diese verlangen zwar nach einem sinnlichen Stoff, aber nicht um das Spiel der Denkkräfte daran fortzusetzen, sondern um es einzustellen. Sie wollen frei sein, aber nur von einer Last, die ihre Trägheit ermüdete, nicht von einer Schranke, die ihre Tätigkeit hemmte. 

   Darf man sich also noch über das Glück der Mittelmäßigkeit und Leerheit in ästhetischen Dingen und über die Rache der schwachen Geister an dem wahren und energischen Schönen verwundern? Auf Erholung rechneten sie bei diesem, aber auf eine Erholung nach ihrem Bedürfnis und nach ihrem armen Begriff und mit Verdruss entdecken sie, dass ihnen jetzt erst eine Kraftäußerung zugemutet wird, zu der ihnen auch in ihrem besten Moment das Vermögen fehlen möchte. Dort hingegen sind sie willkommen, wie sie sind; denn so wenig Kraft sie auch mitbringen, so brauchen sie doch noch viel weniger, um den Geist ihres Schriftstellers auszuschöpfen. Der Last des Denkens sind sie hier auf einmal entledigt, und die los gespannte Natur darf sich im seligen Genuss des Nichts auf dem weichen Poster der Platitude pflegen. In dem Tempel Thaliens und Melpomenens, so wie er bei uns bestellt ist, thront die geliebte Göttin, empfängt in ihrem weiten Schoß den stumpfsinnigen Gelehrten und den erschöpften Geschäftsmann und wiegt den Geist in einen magnetischen Schlaf, indem sie die erstarrten Sinne erwärmt und die Einbildungskraft in einer süßen Bewegung schaukelt. 

   Und warum wollte man den gemeinen Köpfen nicht nachsehen, was selbst den besten oft genug zu begegnen pflegt! Der Nachlass, welchen die Natur nach jeder anhaltenden Spannung fordert und sich auch ungefordert nimmt (und nur für solche Momente pflegt man den Genuss schöner Werke aufzusparen), ist der ästhetischen Urteilskraft so wenig günstig, dass unter den eigentlich beschäftigten Klassen nur äußerst wenige sein werden, die in Sachen des Geschmacks mit Sicherheit und, worauf hier so viel ankommt, mit Gleichförmigkeit urteilen können. Nichts ist gewöhnlicher, als dass sich die Gelehrten, den gebildeten Weltleuten gegenüber, in Urteilen über die Schönheit die lächerlichsten Blößen geben, und dass besonders die Kunstrichter von Handwerk der Spott aller Kenner sind. Ihr verwahrlostes, bald überspanntes, bald rohes Gefühl leitet sie in den meisten Fällen falsch, und wenn sie auch zu Verteidigung desselben in der Theorie etwas aufgegriffen haben, so können sie daraus nur technische (die Zweckmäßigkeit eines Werks betreffende), nicht aber ästhetische Urteile bilden, welche immer das Ganze umfassen müssen, und bei denen also die Empfindung entscheiden muss. Wenn sie endlich nur gutwillig auf die letztern Verzicht leisten und es bei den ersten bewenden lassen wollten, so möchten sie immer noch Nutzen genug stiften, da der Dichter in seiner Begeisterung und der empfindende Leser im Moment des Genusses das Einzelne gar leicht vernachlässigen. Ein desto lächerlicheres Schauspiel ist es aber, wenn diese rohen Naturen, die es mit aller peinlichen Arbeit an sich selbst höchstens zu Ausbildung einer einzelnen Fertigkeit bringen, ihr dürftiges Individuum zum Repräsentanten des allgemeinen Gefühls aufstellen und im Schweiß ihres Angesichts – über das Schöne richten. 

   Dem Begriff der Erholung, welche die Poesie zu gewähren habe, werden, wie wir gesehen, gewöhnlich viel zu enge Grenzen gesetzt, weil man ihn zu einseitig auf das bloße Bedürfnis der Sinnlichkeit zu beziehen pflegt. Gerade umgekehrt wird dem Begriff der Veredlung, welche der Dichter beabsichtigen soll, gewöhnlich ein viel zu weiter Umfang gegeben, weil man ihn zu einseitig nach der bloßen Idee bestimmt. 

   Der Idee nach geht nämlich die Veredlung immer ins Unendliche, weil die Vernunft in ihren Forderungen sich an die notwendigen Schranken der Sinnenwelt nicht bindet und nicht eher als bei dem absolut Vollkommenen still steht. Nichts, worüber sich noch etwas Höheres denken lässt, kann ihr Genüge leisten; vor ihren strengen Gerichten entschuldigt kein Bedürfnis der endlichen Natur; sie erkennt keine andern Grenzen an, als des Gedankens, und von diesem wissen wir, dass er sich über alle Grenzen der Zeit und des Raumes schwingt. Ein solches Ideal der Veredlung, welches die Vernunft in ihrer reinen Gesetzgebung vorzeichnet, darf sich also der Dichter ebenso wenig als jenes niedrige Ideal der Erholung, welches die Sinnlichkeit aufstellt, zum Zweck setzen, da er die Menschheit zwar von allen zufälligen Schranken befreien soll, aber ohne ihren Begriff aufzuheben und ihre notwendigen Grenzen zu verrücken. Was er über diese Linien hinaus sich erlaubt, ist Überspannung, und zu dieser eben wird er nur allzu leicht durch einen falsch verstandenen Begriff von Veredlung verleitet. Aber das Schlimme ist, dass er sich selbst zu dem wahren Ideal menschlicher Veredlung nicht wohl erheben kann, ohne noch einige Schritte über dasselbe hinaus zu geraten. Um nämlich dahin zu gelangen, muss er die Wirklichkeit verlassen, denn er kann es, wie jedes Ideal, nur aus innern und moralischen Quellen schöpfen. Nicht in der Welt, die ihn umgibt, und im Geräusch des handelnden Lebens, in seinem Herzen nur trifft er es an, und nur in der Stille einsamer Betrachtung findet er sein Herz. Aber diese Abgezogenheit vom Leben wird nicht immer bloß die zufälligen – sie wird öfters auch die notwendigen und unüberwindlichen Schranken der Menschheit aus seinen Augen rücken, und indem er die reine Form sucht, wird er in Gefahr sein, allen Gehalt zu verlieren. Die Vernunft wird ihr Geschäft viel zu abgesondert von der Erfahrung treiben, und was der kontemplative Geist auf dem ruhigen Weg des Denkens aufgefunden, wird der handelnde Mensch auf dem drangvollen Weg des Lebens nicht in Erfüllung bringen können. So bringt gewöhnlich eben das den Schwärmer hervor, was allein imstande war den Weisen zu bilden, und der Vorzug des letztern möchte wohl weniger darin bestehen, dass er das erste nicht geworden, als darin, dass er es nicht geblieben ist. 

   Da es also weder dem arbeitenden Teil der Menschen überlassen werden darf, den Begriff der Erholung nach seinem Bedürfnis, noch dem kontemplativen Teile, den Begriff der Veredlung nach seinen Spekulationen zu bestimmen, wenn jener Begriff nicht zu physisch und der Poesie zu unwürdig, dieser nicht zu hyperphysisch und der Poesie zu überschwänglich ausfallen soll – diese beiden Begriffe aber, wie die Erfahrung lehrt, das allgemeine Urteil über Poesie und poetische Werke regieren, so müssen wir uns, um sie auslegen zu lassen, nach einer Klasse von Menschen umsehen, welche, ohne zu arbeiten, tätig ist und idealisieren kann, ohne zu schwärmen, welche alle Realitäten des Lebens mit den wenigst-möglichen Schranken desselben in sich vereinigt und vom Strom der Begebenheiten getragen wird, ohne der Raub desselben zu werden. Nur eine solche Klasse kann das schöne Ganze menschlicher Natur, welches durch jede Arbeit augenblicklich und durch ein arbeitendes Leben anhaltend zerstört wird, aufbewahren und in allem, was rein menschlich ist, durch ihre Gefühle dem allgemeinen Urteil Gesetze geben. Ob eine solche Klasse wirklich existiere, oder vielmehr, ob diejenige, welche unter ähnlichen äußern Verhältnissen wirklich existiert, diesem Begriff auch im Innern entspreche, ist eine andre Frage, mit der ich hier nichts zu schaffen habe. Entspricht sie demselben nicht, so hat sie bloß sich selbst anzuklagen, da die entgegen gesetzte, arbeitende Klasse wenigstens die Genugtuung hat, sich als ein Opfer ihres Berufs zu betrachten. In einer solchen Volksklasse (die ich aber hier bloß als Idee aufstelle und keineswegs als ein Faktum bezeichnet haben will) würde sich der naive Charakter mit dem sentimentalischen also vereinigen, dass jeder den andern vor seinem Extrem bewahrte, und indem der erste das Gemüt vor Überspannung schützte, der andere es vor Erschlaffung sicher stellte. Denn endlich müssen wir es doch gestehen, dass weder der naive noch der sentimentalische Charakter, für sich allein betrachtet, das Ideal schöner Menschlichkeit ganz erschöpfen, das nur aus der innigen Verbindung beider hervorgehen kann. 

   Zwar solange man beide Charaktere bis zum dichterischen exaltiert, wie wir sie auch bisher betrachtet haben, verliert sich vieles von den ihnen adhärierenden Schranken, und auch ihr Gegensatz wird immer weniger merklich, in einem je höheren Grad sie poetisch werden; denn die poetische Stimmung ist ein selbständiges Ganze, in welchem alle Unterschiede und alle Mängel verschwinden. Aber eben darum, weil es nur der Begriff des Poetischen ist, in welchem beide Empfindungsarten zusammentreffen können, so wird ihre gegenseitige Verschiedenheit und Bedürftigkeit in demselben Grad merklicher, als sie den poetischen Charakter ablegen; und dies ist der Fall im gemeinen Leben. Je tiefer sie zu diesem herabsteigen, desto mehr verlieren sie von ihrem generischen Charakter, der sie einander näher bringt, bis zuletzt in ihren Karikaturen nur der Artcharakter übrig bleibt, der sie einander entgegensetzt. 

   Dieses führt mich auf einen sehr merkwürdigen psychologischen Antagonism unter den Menschen in einem sich kultivierenden Jahrhundert: Einen Antagonism, der, weil er radikal und in der innern Gemütsform gegründet ist, eine schlimmere Trennung unter den Menschen anrichtet, als der zufällige Streit der Interessen je hervorbringen könnte, der dem Künstler und Dichter alle Hoffnung benimmt, allgemein zu gefallen und zu rühren, was doch seine Aufgabe ist; der es dem Philosophen, auch wenn er alles getan hat, unmöglich macht, allgemein zu überzeugen, was doch der Begriff einer Philosophie mit sich bringt; der es endlich dem Menschen im praktischen Leben niemals vergönnen wird, seine Handlungsweise allgemein gebilligt zu sehen – kurz, einen Gegensatz, welcher Schuld ist, dass kein Werk des Geistes und keine Handlung des Herzens bei einer Klasse ein entscheidendes Glück machen kann, ohne eben dadurch bei der andern sich einen Verdammungsspruch zuzuziehen. Dieser Gegensatz ist ohne Zweifel so alt, als der Anfang der Kultur, und dürfte vor dem Ende derselben schwerlich anders, als in einzelnen seltenen Subjekten, deren es hoffentlich immer gab und immer geben wird, beigelegt werden; aber obgleich zu seinen Wirkungen auch diese gehört, dass er jeden Versuch zu seiner Beilegung vereitelt, weil kein Teil dahin zu bringen ist, einen Mangel auf seiner Seite und eine Realität auf der andern einzugestehen, so ist es doch immer Gewinn genug, eine so wichtige Trennung bis zu ihrer letzten Quelle zu verfolgen und dadurch den eigentlichen Punkt des Streits wenigstens auf eine einfachere Formel zu bringen. 

   Man gelangt am besten zu dem wahren Begriff dieses Gegensatzes, wenn man, wie ich eben bemerkte, sowohl von dem naiven als von dem sentimentalischen Charakter absondert, was beide Poetisches haben. Es bleibt alsdann von dem ersteren nichts übrig, als in Rücksicht auf das Theoretische ein nüchterner Beobachtungsgeist und eine feste Anhänglichkeit an das gleichförmige Zeugnis der Sinne, in Rücksicht auf das Praktische eine resignierte Unterwerfung unter die Notwendigkeit (nicht aber unter die blinde Nötigung) der Natur: Eine Ergebung also in das, was ist und was sein muss. Es bleibt von dem sentimentalischen Charakter nichts übrig, als im Theoretischen ein unruhiger Spekulationsgeist, der auf das Unbedingte in allen Erkenntnissen dringt, im Praktischen ein moralischer Rigorism, der auf dem Unbedingten in Willenshandlungen besteht. Wer sich zu der ersten Klasse zählt, kann ein Realist, und wer zur andern, ein Idealist genannt werden, bei welchen Namen man sich aber weder an den guten noch schlimmen Sinn, den man in der Metaphysik damit verbindet, erinnern darf6).

   Da der Realist durch die Notwendigkeit der Natur sich bestimmen lässt, der Idealist durch die Notwendigkeit der Vernunft sich bestimmt, so muss zwischen beiden dasselbe Verhältnis stattfinden, welches zwischen den Wirkungen der Natur und den Handlungen der Vernunft angetroffen wird. Die Natur, wissen wir, obgleich eine unendliche Größe im Ganzen, zeigt sich in jeder einzelnen Wirkung abhängig und bedürftig; nur in dem All ihrer Erscheinungen drückt sie einen selbständigen, großen Charakter aus. Alles Individuelle in ihr ist nur deswegen, weil etwas anderes ist; nichts springt aus sich selbst, alles nur aus dem vorhergehenden Moment hervor, um zu einem folgenden zu führen. Aber eben diese gegenseitige Beziehung der Erscheinungen aufeinander sichert einer jeden das Dasein durch das Dasein der andern, und von der Abhängigkeit ihrer Wirkungen ist die Stetigkeit und Notwendigkeit derselben unzertrennlich. Nichts ist frei in der Natur, aber auch nichts ist willkürlich in derselben. 

   Und gerade so zeigt sich der Realist, sowohl in seinem Wissen als in seinem Tun. Auf alles, was bedingungsweise existiert, erstreckt sich der Kreis seines Wissens und Wirkens; aber nie bringt er es auch weiter als zu bedingten Erkenntnissen und die Regeln, die er sich aus einzelnen Erfahrungen bildet, gelten, in ihrer ganzen Strenge genommen, auch nur einmal; erhebt er die Regel des Augenblicks zu einem allgemeinen Gesetz, so wird er sich unausbleiblich in Irrtum stürzen. Will daher der Realist in seinem Wissen zu etwas Unbedingtem gelangen, so muss er es auf dem nämlichen Weg versuchen, auf dem die Natur ein Unendliches wird, nämlich auf dem Weg des Ganzen und in dem All der Erfahrung. Da aber die Summe der Erfahrung nie völlig abgeschlossen wird, so ist eine komparative Allgemeinheit das Höchste, was der Realist in seinem Wissen erreicht. Auf die Wiederkehr ähnlicher Fälle baut er seine Einsicht und wird daher richtig urteilen in allem, was in der Ordnung ist; in allem hingegen, was zum ersten Mal sich darstellt, kehrt seine Weisheit zu ihrem Anfang zurück. 

   Was von dem Wissen des Realisten gilt, das gilt auch von seinem (moralischen) Handeln. Sein Charakter hat Moralität, aber diese liegt, ihrem reinen Begriff nach, in keiner einzelnen Tat, nur in der ganzen Summe seines Lebens. In jedem besondern Fall wird er durch äußere Ursachen und durch äußere Zwecke bestimmt werden; nur dass jene Ursachen nicht zufällig, jene Zwecke nicht augenblicklich sind, sondern aus dem Naturganzen subjektiv fließen und auf dasselbe sich objektiv beziehen. Die Antriebe seines Willens sind also zwar in rigoristischem Sinn weder frei genug, noch moralisch lauter genug, weil sie etwas anders als den bloßen Willen zu ihrer Ursache und etwas anders als das bloße Gesetz zu ihrem Gegenstand haben; aber es sind ebenso wenig blinde und materialistische Antriebe, weil dieses andere das absolute Ganze der Natur, folglich etwas Selbständiges und Notwendiges ist. So zeigt sich der gemeine Menschenverstand, der vorzügliche Anteil des Realisten, durchgängig im Denken und im Betragen. Aus dem einzelnen Fall schöpft er die Regel seines Urteils, aus einer inneren Empfindung die Regel seines Tuns; aber mit glücklichem Instinkt weiß er von beiden alles Momentane und Zufällige zu scheiden. Bei dieser Methode fährt er im Ganzen vortrefflich und wird schwerlich einen bedeutenden Fehler sich vorzuwerfen haben; nur auf Größe und Würde möchte er in keinem besondern Fall Anspruch machen können. Diese ist nur der Preis der Selbständigkeit und Freiheit, und davon sehen wir in seinen einzelnen Handlungen zu wenig Spuren. 

   Ganz anders verhält es sich mit dem Idealisten, der aus sich selbst und aus der bloßen Vernunft seine Erkenntnisse und Motive nimmt. Wenn die Natur in ihren einzelnen Wirkungen immer abhängig und beschränkt erscheint, so legt die Vernunft den Charakter der Selbständigkeit und Vollendung gleich in jede einzelne Handlung. Aus sich selbst schöpft sie alles, und auf sich selbst bezieht sie alles. Was durch sie geschieht, geschieht nur um ihretwillen; eine absolute Größe ist jeder Begriff, den sie aufstellt, und jeder Entschluss, den sie bestimmt. Und eben so zeigt sich auch der Idealist, soweit er diesen Namen mit Recht führt, in seinem Wissen, wie in seinem Tun. Nicht mit Erkenntnissen zufrieden, die bloß unter bestimmten Voraussetzungen gültig sind, sucht er bis zu Wahrheiten zu dringen, die nichts mehr voraussetzen und die Voraussetzungen zu allem andern sind. Ihn befriedigt nur die philosophische Einsicht, welche alles bedingte Wissen auf ein unbedingtes zurückführt und an dem Notwendigen in dem menschlichen Geist alle Erfahrung befestigt; die Dinge, denen der Realist sein Denken unterwirft, muss er sich, seinem Denkvermögen, unterwerfen. Und er verfährt hierin mit völliger Befugnis; denn wenn die Gesetze des menschlichen Geistes nicht auch zugleich die Weltgesetze wären, wenn die Vernunft endlich selbst unter der Erfahrung stünde, so würde auch keine Erfahrung möglich sein. 

   Aber er kann es bis zu absoluten Wahrheiten gebracht haben und dennoch in seinen Kenntnissen dadurch nicht viel gefördert sein. Denn alles freilich steht zuletzt unter notwendigen und allgemeinen Gesetzen, aber nach zufälligen und besondern Regeln wird jedes Einzelne regiert; und in der Natur ist alles einzeln. Er kann also mit seinem philosophischen Wissen das Ganze beherrschen und für das Besondere, für die Ausübung, dadurch nichts gewonnen haben; ja, indem er überall auf die obersten Gründe dringt, durch die alles möglich wird, kann er die nächsten Gründe, durch die alles wirklich wird, leicht versäumen; indem er überall auf das Allgemeine sein Augenmerk richtet, welches die verschiedensten Fälle einander gleich macht, kann er leicht das Besondere vernachlässigen, wodurch sie sich voneinander unterscheiden. Er wird also sehr viel mit seinem Wissen umfassen können und vielleicht eben deswegen wenig fassen und oft an Einsicht verlieren, was er an Übersicht gewinnt. Daher kommt es, dass, wenn der spekulative Verstand den gemeinen um seiner Beschränktheit willen verachtet, der gemeine Verstand den spekulativen seiner Leerheit wegen verlacht; denn die Erkenntnisse verlieren immer an bestimmtem Gehalt, was sie an Umfang gewinnen. 

   In der moralischen Beurteilung wird man bei dem Idealisten eine reinere Moralität im Einzelnen, aber weit weniger moralische Gleichförmigkeit im Ganzen finden. Da er nur insofern Idealist heißt, als er aus reiner Vernunft seine Bestimmungsgründe nimmt, die Vernunft aber in jeder ihrer Äußerungen sich absolut beweist, so tragen schon seine einzelnen Handlungen, sobald sie überhaupt nur moralisch sind, den ganzen Charakter moralischer Selbständigkeit und Freiheit; und gibt es überhaupt nur im wirklichen Leben eine wahrhaft sittliche Tat, die es auch vor einem rigoristischen Urteil bliebe, so kann sie nur von dem Idealisten ausgeübt werden. Aber je reiner die Sittlichkeit seiner einzelnen Handlungen ist, desto zufälliger ist sie auch; denn Stetigkeit und Notwendigkeit ist zwar der Charakter der Natur, aber nicht der Freiheit. Nicht zwar, als ob der Idealism mit der Sittlichkeit je in Streit geraten könnte, welches sich widerspricht, sondern weil die menschliche Natur eines konsequenten Idealism gar nicht fähig ist. Wenn sich der Realist, auch in seinem moralischen Handeln, einer physischen Notwendigkeit ruhig und gleichförmig unterordnet, so muss der Idealist einen Schwung nehmen, er muss augenblicklich seine Natur exaltieren, und er vermag nichts, als insofern er begeistert ist. Alsdann freilich vermag er auch desto mehr, und sein Betragen wird einen Charakter von Hoheit und Größe zeigen, den man in den Handlungen des Realisten vergeblich sucht. Aber das wirkliche Leben ist keineswegs geschickt, jene Begeisterung in ihm zu wecken, und noch viel weniger, sie gleichförmig zu nähren. Gegen das Absolutgroße, von dem er jedes Mal ausgeht, macht das Absolutkleine des einzelnen Falles, auf den er es anzuwenden hat, einen gar zu starken Absatz. Weil sein Wille, der Form nach, immer auf das Ganze gerichtet ist, so will er ihn, der Materie nach, nicht auf Bruchstücke richten, und doch sind es meistenteils nur geringfügige Leistungen, wodurch er seine moralische Gesinnung beweisen kann. So geschieht es denn nicht selten, dass er über dem unbegrenzten Ideale den begrenzten Fall der Anwendung übersieht und, von einem Maximum erfüllt, das Minimum verabsäumt, aus dem allein doch alles Große in der Wirklichkeit erwächst. 

   Will man also dem Realisten Gerechtigkeit widerfahren lassen, so muss man ihn nach dem ganzen Zusammenhang seines Lebens richten; will man sie dem Idealisten erweisen, so muss man sich an einzelne Äußerungen desselben halten, aber man muss diese erst heraus wählen. Das gemeine Urteil, welches so gern nach dem Einzelnen entscheidet, wird daher über den Realisten gleichgültig schweigen, weil seine einzelnen Lebensakte gleich wenig Stoff zum Lob und zum Tadel geben; über den Idealisten hingegen wird es immer Partei ergreifen und zwischen Verwerfung und Bewunderung sich teilen, weil in dem Einzelnen sein Mangel und seine Stärke liegt. 

   Es ist nicht zu vermeiden, dass bei einer so großen Abweichung in den Prinzipien beide Parteien in ihren Urteilen einander nicht oft gerade entgegen gesetzt sind und, wenn sie selbst in den Objekten und Resultaten überein träfen, nicht in den Gründen auseinander sein sollten. Der Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sei, und die Dinge nach dem, was sie wert sind, zu taxieren wissen; der Idealist wird fragen, ob sie gut sei, und die Dinge nach dem taxieren, was sie würdig sind. Von dem, was seinen Wert und Zweck in sich selbst hat (das Ganze jedoch immer ausgenommen), weiß und hält der Realist nicht viel; in Sachen des Geschmacks wird er dem Vergnügen, in Sachen der Moral wird er der Glückseligkeit das Wort reden, wenn er diese gleich nicht zur Bedingung des sittlichen Handelns macht; auch in seiner Religion vergisst er seinen Vorteil nicht gern, nur dass er denselben in dem Ideal des höchsten Guts veredelt und heiligt. Was er liebt, wird er zu beglücken, der Idealist wird es zu veredeln suchen. Wenn daher der Realist in seinen politischen Tendenzen den Wohlstand bezweckt, gesetzt dass es auch von der moralischen Selbständigkeit des Volks etwas kosten sollte, so wird der Idealist, selbst auf Gefahr des Wohlstands, die Freiheit zu seinem Augenmerk machen. Unabhängigkeit des Zustandes ist jenem, Unabhängigkeit von dem Zustand ist diesem das höchste Ziel, und dieser charakteristische Unterschied lässt sich durch ihr beiderseitiges Denken und Handeln verfolgen. Daher wird der Realist seine Zuneigung immer dadurch beweisen, dass er gibt, der Idealist dadurch, dass er empfängt; durch das, was er in seiner Großmut aufopfert, verrät jeder, was er am höchsten schätzt. Der Idealist wird die Mängel seines Systems mit seinem Individuum und seinem zeitlichen Zustand bezahlen, aber er achtet dieses Opfer nicht; der Realist büßt die Mängel des seinigen mit seiner persönlichen Würde, aber er erfährt nichts von diesem Opfer. Sein System bewährt sich an allem, wovon er Kundschaft hat und wonach er ein Bedürfnis empfindet – was bekümmern ihn Güter, von denen er keine Ahnung und an die er keinen Glauben hat? Genug für ihn, er ist im Besitz, die Erde ist sein und es ist Licht in seinem Verstand, und Zufriedenheit wohnt in seiner Brust. Der Idealist hat lange kein so gutes Schicksal. Nicht genug, dass er oft mit dem Glück zerfällt, weil er versäumte, den Moment zu seinem Freund zu machen, er zerfällt auch mit sich selbst; weder sein Wissen, noch sein Handeln kann ihm Genüge tun. Was er von sich fordert, ist ein Unendliches, aber beschränkt ist alles, was er leistet. Diese Strenge, die er gegen sich selbst beweist, verleugnet er auch nicht in seinem Betragen gegen andre. Er ist zwar großmütig, weil er sich, andern gegenüber, seines Individuums weniger erinnert; aber er ist öfters unbillig, weil er das Individuum ebenso leicht in andern übersieht. Der Realist hingegen ist weniger großmütig; aber er ist billiger, da er alle Dinge mehr in ihrer Begrenzung beurteilt. Das Gemeine, ja, selbst das Niedrige im Denken und Handeln kann er verzeihen, nur das Willkürliche, das Exzentrische nicht; der Idealist hingegen ist ein geschworner Feind alles Kleinlichen und Platten und wird sich selbst mit dem Extravaganten und Ungeheuren versöhnen, wenn es nur von einem großen Vermögen zeugt. Jener beweist sich als Menschenfreund, ohne eben einen sehr hohen Begriff von den Menschen und der Menschheit zu haben; dieser denkt von der Menschheit so groß, dass er darüber in Gefahr kommt, die Menschen zu verachten. 

   Der Realist für sich allein würde den Kreis der Menschheit nie über die Grenzen der Sinnenwelt hinaus erweitert, nie den menschlichen Geist mit seiner selbständigen Größe und Freiheit bekannt gemacht haben; alles Absolute in der Menschheit ist ihm nur eine schöne Schimäre und der Glaube daran nicht viel besser als Schwärmerei, weil er den Menschen niemals in seinem reinen Vermögen, immer nur in einem bestimmten und eben darum begrenzten Wirken erblickt. Aber der Idealist für sich allein würde ebenso wenig die sinnlichen Kräfte kultiviert und den Menschen als Naturwesen ausgebildet haben, welches doch ein gleich wesentlicher Teil seiner Bestimmung und die Bedingung aller moralischen Veredlung ist. Das Streben des Idealisten geht viel zu sehr über das sinnliche Leben und über die Gegenwart hinaus; für das Ganze nur, für die Ewigkeit will er säen und pflanzen und vergisst darüber, dass das Ganze nur der vollendete Kreis des Individuellen, dass die Ewigkeit nur eine Summe von Augenblicken ist. Die Welt, wie der Realist sie um sich herum bilden möchte und wirklich bildet, ist ein wohl angelegter Garten, worin alles nützt, alles seine Stelle verdient und, was nicht Früchte trägt, verbannt ist; die Welt unter den Händen des Idealisten ist eine weniger benutzte, aber in einem größeren Charakter ausgeführte Natur. Jenem fällt es nicht ein, dass der Mensch noch zu etwas anderem da sein könne, als wohl und zufrieden zu leben, und dass er nur deswegen Wurzeln schlagen soll, um seinen Stamm in die Höhe zu treiben. Dieser denkt nicht daran, dass er vor allen Dingen wohl leben muss, um gleichförmig zu gut und edel zu denken, und dass es auch um den Stamm getan ist, wenn die Wurzeln fehlen. 

   Wenn in einem System etwas ausgelassen ist, wonach doch ein dringendes und nicht zu umgehendes Bedürfnis in der Natur sich vorfindet, so ist die Natur nur durch eine Inkonsequenz gegen das System zu befriedigen. Einer solchen Inkonsequenz machen auch hier beide Teile sich schuldig, und sie beweist, wenn es bis jetzt noch zweifelhaft geblieben sein könnte, zugleich die Einseitigkeit beider Systeme und den reichen Gehalt der menschlichen Natur. Von dem Idealisten brauch’ ich es nicht erst insbesondere darzutun, dass er notwendig aus seinem System treten muss, sobald er eine bestimmte Wirkung bezweckt; denn alles bestimmte Dasein steht unter zeitlichen Bedingungen und erfolgt nach empirischen Gesetzen. In Rücksicht auf den Realisten hingegen könnte es zweifelhaft erscheinen, ob er nicht auch schon innerhalb seines Systems allen notwendigen Forderungen der Menschheit genüge leisten kann. Wenn man den Realisten fragt: Warum tust du, was recht ist, und leidest, was notwendig ist? So wird er im Geist seines Systems darauf antworten: Weil es die Natur so mit sich bringt, weil es so sein muss. Aber damit ist die Frage noch keineswegs beantwortet, denn es ist nicht davon die Rede, was die Natur mit sich bringt, sondern was der Mensch will; denn er kann ja auch nicht wollen, was sein muss. Man kann ihn also wieder fragen: Warum willst du denn, was sein muss? Warum unterwirft sich dein freier Wille dieser Naturnotwendigkeit, da er sich ihr ebenso gut (wenn gleich ohne Erfolg, von dem hier auch gar nicht die Rede ist) entgegensetzen könnte und sich in Millionen deiner Brüder derselben wirklich entgegensetzt? Du kannst nicht sagen, weil alle andern Naturwesen sich derselben unterwerfen, denn du allein hast einen Willen, ja, du fühlst, dass deine Unterwerfung eine freiwillige sein soll. Du unterwirfst dich also, wenn es freiwillig geschieht, nicht der Naturnotwendigkeit selbst, sondern der Idee derselben; denn jene zwingt dich bloß blind, wie sie den Wurm zwingt; deinem Willen aber kann sie nichts anhaben, da du, selbst von ihr zermalmt, einen andern Willen haben kannst. Woher bringst du aber jene Idee der Naturnotwendigkeit? Aus der Erfahrung doch wohl nicht, die dir nur einzelne Naturwirkungen, aber keine Natur (als Ganzes), und nur einzelne Wirklichkeiten, aber keine Notwendigkeit liefert. Du gehst also über die Natur hinaus und bestimmst dich idealistisch, sooft du entweder moralisch handeln oder nur nicht blind leiden willst. Es ist also offenbar, dass der Realist würdiger handelt, als er seiner Theorie nach zugibt, so wie der Idealist erhabener denkt, als er handelt. Ohne es sich selbst zu gestehen, beweist jener durch die ganze Haltung seines Lebens die Selbständigkeit, dieser durch einzelne Handlungen die Bedürftigkeit der menschlichen Natur. 

   Einem aufmerksamen und parteilosen Leser werde ich nach der hier gegebenen Schilderung (deren Wahrheit auch derjenige eingestehen kann, der das Resultat nicht annimmt) nicht erst zu beweisen brauchen, dass das Ideal menschlicher Natur unter beide verteilt, von keinem aber völlig erreicht ist. Erfahrung und Vernunft haben beide ihre eigenen Gerechtsame, und keine kann in das Gebiet der andern einen Eingriff tun, ohne entweder für den innern oder äußern Zustand des Menschen schlimme Folgen anzurichten. Die Erfahrung allein kann uns lehren, was unter gewissen Bedingungen ist, was unter bestimmten Voraussetzungen erfolgt, was zu bestimmten Zwecken geschehen muss. Die Vernunft allein kann uns hingegen lehren, was ohne alle Bedingung gilt, und was notwendig sein muss. Maßen wir uns nun an, mit unserer bloßen Vernunft über das äußere Dasein der Dinge etwas ausmachen zu wollen, so treiben wir bloß ein leeres Spiel, und das Resultat wird auf nichts hinauslaufen; denn alles Dasein steht unter Bedingungen, und die Vernunft bestimmt unbedingt. Lassen wir aber ein zufälliges Ereignis über dasjenige entscheiden, was schon der bloße Begriff unsers eigenen Seins mit sich bringt, so machen wir uns selber zu einem leeren Spiel des Zufalls, und unsere Persönlichkeit wird auf nichts hinauslaufen. In dem ersten Fall ist es also um den Wert (den zeitlichen Gehalt) unsers Lebens, in dem zweiten um die Würde (den moralischen Gehalt) unsers Lebens getan. 

   Zwar haben wir in den bisherigen Schilderungen dem Realisten einen moralischen Wert und dem Idealisten einen Erfahrungsgehalt zugestanden, aber bloß insofern beide nicht ganz konsequent verfahren und die Natur in ihnen mächtiger wirkt, als das System. Obgleich aber beide dem Ideal vollkommener Menschheit nicht ganz entsprechen, so ist zwischen beiden doch der wichtige Unterschied, dass der Realist zwar dem Vernunftbegriff der Menschheit in keinem einzelnen Fall Genüge leistet, dafür aber dem Verstandesbegriff derselben auch niemals widerspricht, der Idealist hingegen zwar in einzelnen Fällen dem höchsten Begriff der Menschheit näher kommt, dagegen aber nicht selten sogar unter dem niedrigsten Begriff derselben bleibt. Nun kommt es aber in der Praxis des Lebens weit mehr darauf an, dass das Ganze gleichförmig menschlich gut, als dass das Einzelne zufällig göttlich sei – und wenn also der Idealist ein geschickteres Subjekt ist, uns von dem, was der Menschheit möglich ist, einen großen Begriff zu erwecken und Achtung für ihre Bestimmung einzuflößen, so kann nur der Realist sie mit Stetigkeit in der Erfahrung ausführen und die Gattung in ihren ewigen Grenzen erhalten. Jener ist zwar ein edleres, aber ein ungleich weniger vollkommenes Wesen; dieser erscheint zwar durchgängig weniger edel, aber er ist dagegen desto vollkommener; denn das Edle liegt schon in dem Beweis eines großen Vermögens, aber das Vollkommene liegt in der Haltung des Ganzen und in der wirklichen Tat. 

   Was von beiden Charakteren in ihrer besten Bedeutung gilt, das wird noch merklicher in ihren beiderseitigen Karikaturen. Der wahre Realism ist wohltätiger in seinen Wirkungen und nur weniger edel in seiner Quelle; der falsche ist in seiner Quelle verächtlich und in seinen Wirkungen nur etwas weniger verderblich. Der wahre Realist nämlich unterwirft sich zwar der Natur und ihrer Notwendigkeit, aber der Natur als einem Ganzen, aber ihrer ewigen und absoluten Notwendigkeit, nicht ihren blinden und augenblicklichen Nötigungen. Mit Freiheit umfasst und befolgt er ihr Gesetz, und immer wird er das Individuelle dem Allgemeinen unterordnen: Daher kann es auch nicht fehlen, dass er mit dem echten Idealisten in dem endlichen Resultat übereinkommen wird, wie verschieden auch der Weg ist, welchen beide dazu einschlagen. Der gemeine Empiriker hingegen unterwirft sich der Natur als einer Macht und mit wahlloser, blinder Ergebung. Auf das Einzelne sind seine Urteile, seine Bestrebungen beschränkt; er glaubt und begreift nur, was er betastet; er schätzt nur, was ihn sinnlich verbessert. Er ist daher auch weiter nichts, als was die äußern Eindrücke zufällig aus ihm machen wollen; seine Selbstheit ist unterdrückt, und als Mensch hat er absolut keinen Wert und keine Würde; aber als Sache ist er noch immer etwas, er kann noch immer zu etwas gut sein. Eben die Natur, der er sich blindlings überliefert, lässt ihn nicht ganz sinken; ihre ewigen Grenzen schützen ihn, ihre unerschöpflichen Hilfsmittel retten ihn, sobald er seine Freiheit nur ohne allen Vorbehalt aufgibt. Obgleich er in diesem Zustand von keinen Gesetzen weiß, so walten diese doch unerkannt über ihm, und wie sehr auch seine einzelnen Bestrebungen mit dem Ganzen im Streit liegen mögen, so wird sich dieses doch unfehlbar dagegen zu behaupten wissen. Es gibt Menschen genug, ja, wohl ganze Völker, die in diesem verächtlichen Zustand leben, die bloß durch die Gnade des Naturgesetzes, ohne alle Selbstheit, bestehen und daher auch nur zu etwas gut sind; aber dass sie auch nur leben und bestehen, beweist, dass dieser Zustand nicht ganz gehaltlos ist. 

   Wenn dagegen schon der wahre Idealism in seinen Wirkungen unsicher und öfters gefährlich ist, so ist der falsche in den seinigen schrecklich. Der wahre Idealist verlässt nur deswegen die Natur und Erfahrung, weil er hier das Unwandelbare und unbedingt Notwendige nicht findet, wonach die Vernunft ihn doch streben heißt; der Phantast verlässt die Natur aus bloßer Willkür, um dem Eigensinn der Begierden und den Launen der Einbildungskraft desto ungebundener nachgeben zu können. Nicht in die Unabhängigkeit von physischen Nötigungen, in die Lossprechung von moralischen setzt er seine Freiheit. Der Phantast verleugnet also nicht bloß den menschlichen – er verleugnet allen Charakter, er ist völlig ohne Gesetz, er ist also gar nichts und dient auch zu gar nichts. Aber eben darum, weil die Phantasterei keine Ausschweifung der Natur, sondern der Freiheit ist, also aus einer an sich achtungswürdigen Anlage entspringt, die ins Unendliche perfektibel ist, so führt sie auch zu einem unendlichen Fall, in eine bodenlose Tiefe und kann nur in einer völligen Zerstörung sich endigen. 

 

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1) Nochmals muss ich erinnern, dass die Satire, Elegie und Idylle, so wie sie hier als die drei einzig möglichen Arten sentimentalischer Poesie aufgestellt werden, mit den drei besonderen Gedichtarten, welche man unter diesem Namen kennt, nichts gemein haben, als die Empfindungsweise, welche sowohl jenen als diesen eigen ist. Dass es aber, außerhalb den Grenzen naiver Dichtung, nur diese dreifache Empfindungsweise und Dichtungsweise geben könne, folglich das Feld sentimentalischer Poesie durch diese Einteilung vollständig ausgemessen sei, lässt sich aus dem Begriff der letztern leicht deduzieren.
   Die sentimentalische Dichtung nämlich unterscheidet sich dadurch von der naiven, dass sie den wirklichen Zustand, bei dem die letztere stehen bleibt, auf Ideen bezieht und Ideen auf die Wirklichkeit anwendet. Sie hat es daher immer, wie auch schon oben bemerkt worden ist, mit zwei streitenden Objekten, mit dem Ideal nämlich und mit der Erfahrung, zugleich zu tun, zwischen welchen sich weder mehr noch weniger als gerade die drei folgenden Verhältnisse denken lassen. Entweder ist es der Widerspruch des wirklichen Zustandes, oder es ist die Übereinstimmung desselben mit dem Ideal, welche vorzugsweise das Gemüt beschäftigt, oder dieses ist zwischen beiden geteilt. In dem ersten Fall wird es durch die Kraft des innern Streits, durch die energische Bewegung, in dem andern wird es durch die Harmonie des innern Lebens, durch die energische Ruhe, befriedigt, in dem dritten wechselt Streit mit Harmonie, wechselt Ruhe mit Bewegung. Dieser dreifache Empfindungszustand gibt drei verschiedenen Dichtungsarten die Entstehung, denen die gebrauchten Benennungen Satire, Idylle, Elegie vollkommen entsprechend sind, sobald man sich nur an die Stimmung erinnert, in welche die unter diesem Namen vorkommenden Gedichtarten das Gemüt versetzen, und von den Mitteln abstrahiert, wodurch sie dieselbe bewirken.
   Wer daher hier noch fragen könnte, zu welcher von den drei Gattungen ich die Epopöe, den Roman, das Trauerspiel uam. zähle, der würde mich ganz und gar nicht verstanden haben. Denn der Begriff dieser letztern, als einzelner Gedichtarten, wird entweder gar nicht, oder doch nicht allein durch die Empfindungsweise, bestimmt; vielmehr weiß man, dass solche in mehr als einer Empfindungsweise, folglich auch in mehreren der von mir aufgestellten Dichtungsarten ausgeführt werden.
   Schließlich bemerke ich hier noch, dass, wenn man die sentimentalische Poesie, wie billig, für eine echte Art (nicht bloß für eine Abart) und für eine Erweiterung der wahren Dichtkunst zu halten geneigt ist, in der Bestimmung der poetischen Arten, sowie überhaupt in der ganzen poetischen Gesetzgebung, welche noch immer einseitig auf die Observanz der alten und naiven Dichter gegründet wird, auch auf sie einige Rücksicht muss genommen werden. Der sentimentalische Dichter geht in zu wesentlichen Stücken von dem naiven ab, als dass ihm die Formen, welche dieser eingeführt, überall ungezwungen anpassen könnten. Freilich ist es hier schwer, die Ausnahmen, welche die Verschiedenheit der Art erfordert, von den Ausflüchten, welche das Unvermögen sich erlaubt, immer richtig zu unterscheiden; aber so viel lehrt doch die Erfahrung, dass unter den Händen sentimentalischer Dichter (auch der vorzüglichsten) keine einzige Gedichtart ganz das geblieben ist, was sie bei den Alten gewesen, und dass unter den alten Namen öfters sehr neue Gattungen sind ausgeführt worden. ­
2) Mit einem solchen Werk hat Herr Voß noch kürzlich in seiner Luise unsere deutsche Literatur nicht bloß bereichert, sondern auch wahrhaft erweitert. Diese Idylle, obgleich nicht durchaus von sentimentalischen Einflüssen frei, gehört ganz zum naiven Geschlecht, und ringt durch individuelle Wahrheit und gediegene Natur den besten griechischen Mustern mit seltenem Erfolg nach. Sie kann daher, was ihr zu hohem Ruhm gereicht, mit keinem modernen Gedicht aus ihrem Fach, sondern muss mit griechischen Mustern verglichen werden, mit welchen sie auch den so seltenen Vorzug teilt, uns einen reinen, bestimmten und immer gleichen Genuss zu gewähren. ­
3) Für den wissenschaftlich prüfenden Leser bemerke ich, dass beide Empfindungswesen, in ihrem höchsten Begriff gedacht, sich wie die erste und dritte Kategorie zueinander verhalten, indem die letztere immer dadurch entsteht, dass man die erstere mit ihrem geraden Gegenteil verbindet. Das Gegenteil der naiven Empfindung ist nämlich der reflektierende Verstand und die sentimentalische Stimmung ist das Resultat des Bestrebens, auch unter den Bedingungen der Reflexion die naive Empfindung, dem Inhalt nach, wiederherzustellen. Dies würde durch das erfüllte Ideal geschehen, in welchem die Kunst der Natur wieder begegnet. Geht man jene drei Begriffe nach den Kategorien durch, so wird man die Natur und die ihr entsprechende naive Stimmung immer in der ersten, die Kunst als Aufhebung der Natur durch den frei wirkenden Verstand immer in der zweiten, endlich das Ideal, in welchem die vollendete Kunst zur Natur zurückkehrt, in der dritten Kategorie antreffen. ­
4) Wie sehr der naive Dichter von seinem Objekt abhängt, und wie viel, ja, wie alles auf sein Empfinden ankommt, darüber kann uns die alte Dichtkunst die besten Belege geben. Soweit die Natur in ihnen und außer ihnen schön ist, sind es auch die Dichtungen der Alten; wird hingegen die Natur gemein, so ist auch der Geist aus ihren Dichtungen gewichen. Jeder Leser von feinem Gefühl muss z.B. bei ihren Schilderungen der weiblichen Natur, des Verhältnisses zwischen beiden Geschlechtern und der Liebe insbesondere, eine gewisse Leerheit und einen Überdruss empfinden, den alle Wahrheit und Naivität in der Darstellung nicht verbannen kann. Ohne der Schwärmerei das Wort zu reden, welche freilich die Natur nicht veredelt, sondern verlässt, wird man hoffentlich annehmen dürfen, dass die Natur in Rücksicht auf jenes Verhältnis der Geschlechter und den Affekt* der Liebe eines edleren Charakters fähig ist, als ihr die Alten gegeben haben; auch kennt man die zufälligen Umstände, welche der Veredlung jener Empfindungen bei ihnen im Wege standen. Dass es Beschränktheit, nicht innere Notwendigkeit war, was die Alten hierin auf einer niedrigern Stufe festhielt, lehrt das Beispiel neuerer Poeten, welche so viel weiter gegangen sind als ihre Vorgänger, ohne doch die Natur zu übertreten. Die Rede ist hier nicht von dem, was sentimentalische Dichter aus diesem Gegenstand zu machen gewusst haben: Denn diese gehen über die Natur hinaus in das Idealistische, und ihre Beispiel kann also gegen die Alten nichts beweisen; bloß davon ist die Rede, wie der nämliche Gegenstand von wahrhaft naiven Dichtern, wie er z.B. in der Sakontala, in den Minnesängern, in manchen Ritterromanen und Ritterepopöen, wie er von Shakespeare, von Fielding und mehreren andern, selbst deutschen Poeten behandelt ist. Hier wäre nun für die Alten der Fall gewesen, einen von außen zu rohen Stoff von innen heraus durch das Subjekt zu vergeistigen, den poetischen Gehalt, der der äußern Empfindung gemangelt hat, durch Reflexion nachzuholen, die Natur durch die Idee zu ergänzen, mit einem Wort, durch seine sentimentalische Operation aus einem beschränkten Objekt ein unendliches zu machen. Aber es waren naive, nicht sentimentalische Dichtergenies; ihr Werk war also mit der äußern Empfindung geendigt. ­
5) Diese guten Freunde haben es sehr übel aufgenommen, was ein Rezensent in der A.L.Z. vor etlichen Jahren an den Bürger’schen Gedichten getadelt hat und der Ingrimm, womit sie wider diesen Stachel lecken, scheint zu erkennen zu geben, dass sie mit der Sache jenes Dichters ihre eigene zu verfechten glauben. Aber darin irren sie sich sehr. Jene Rüge konnte bloß einem wahren Dichtergenie gelten, das von der Natur reichlich ausgestattet war, aber versäumt hatte, durch eigene Kultur jenes seltene Geschenk auszubilden. Ein solches Individuum durfte und musste man unter den höchsten Maßstab der Kunst stellen, weil es Kraft in sich hatte, demselben, sobald es ernstlich wollte, genug zu tun; aber es wäre lächerlich und grausam zugleich, auf ähnliche Art mit Leuten zu verfahren, an welche die Natur nicht gedacht hat, und die mit jedem Produkt, das sie zu Markte bringen, ein vollgültiges Testimonium paupertatis aufweisen. ­
6) Ich bemerke, um jeder Missdeutung vorzubeugen, dass es bei dieser Einteilung ganz und gar nicht darauf abgesehen ist, eine Wahl zwischen beiden, folglich eine Begünstigung des einen mit Ausschließung des andern zu veranlassen. Gerade diese Ausschließung, welche sich in der Erfahrung findet, bekämpfe ich, und das Resultat der gegenwärtigen Betrachtung wird der Beweis sein, dass nur durch die vollkommen gleiche Einschließung beider dem Vernunftbegriff der Menschheit kann Genüge geleistet werden. Übrigens nehme ich beide in ihrem würdigsten Sinn und in der ganzen Fülle ihres Begriffs, der nur immer mit der Reinheit desselben und mit Beibehaltung ihrer spezifischen Unterschiede bestehen kann. Auch wird sich zeigen, dass ein hoher Grad menschlicher Wahrheit sich mit beiden verträgt, und dass ihre Abweichungen voneinander zwar im Einzelnen, aber nicht im Ganzen, zwar der Form, aber nicht dem Gehalt nach eine Veränderung machen. ­