Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Briefe über Don Carlos

 

Zehnter Brief

Ich bin weder Illuminat noch Maurer, aber wenn beide Verbrüderungen einen moralischen Zweck miteinander gemein haben, und wenn dieser Zweck für die menschliche Gesellschaft der wichtigste ist, so muss er mit demjenigen, den Marquis Posa sich vorsetzte, wenigstens sehr nahe verwandt sein. Was jene durch eine geheime Verbindung mehrerer durch die Welt zerstreuter tätiger Glieder zu bewirken suchen, will der Letztere, vollständiger und kürzer, durch ein einziges Subjekt ausführen: Durch einen Fürsten nämlich, der Anwartschaft hat, den größten Thron der Welt zu besteigen, und durch diesen erhabenen Standpunkt zu einem solchen Werk fähig gemacht wird. In diesem einzigen Subjekt macht er die Ideenreihe und Empfindungsart herrschend, woraus jene wohltätige Wirkung als eine notwendige Folge fließen muss. Vielen dürfte dieser Gegenstand für die dramatische Behandlung zu abstrakt und zu ernsthaft scheinen, und wenn sie sich auf nichts als das Gemälde einer Leidenschaft gefasst gemacht haben, so hätte ich freilich ihre Erwartung getäuscht; aber es schien mir eines Versuchs nicht ganz unwert, „Wahrheiten, die jedem, der es gut mit seiner Gattung meint, die heiligsten sein müssen, und die bis jetzt nur das Eigentum der Wissenschaften waren, in das Gebiet der schönen Künste herüberzuziehen, mit Licht und Wärme zu beseelen und, als lebendig wirkende Motive in das Menschenherz gepflanzt, in einem kraftvollen Kampf mit der Leidenschaft zu zeigen.“ Hat sich der Genius der Tragödie für diese Grenzenverletzung an mir gerochen, so sind deswegen einige nicht ganz unwichtige Ideen, die hier niedergelegt sind, für den redlichen Finder nicht verloren, den es vielleicht nicht unangenehm überraschen wird, Bemerkungen, deren er sich aus seinem Montesquieu erinnert, in einem Trauerspiel angewandt und bestätigt zu sehen.

 

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