Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Briefe über Don Carlos

 

Elfter Brief

   Ehe ich mich auf immer von unserm Freunde Posa verabschiede, noch ein paar Worte über sein rätselhaftes Benehmen gegen den Prinzen und über seinen Tod. 

   Viele nämlich haben ihm vorgeworfen, dass er, der von der Freiheit so hohe Begriffe hegt und sie unaufhörlich im Mund führt, sich doch selbst einer despotischen Willkür über seinen Freund anmaße, dass er ihn blind, wie einen Unmündigen, leite und ihn eben dadurch an den Rand des Untergangs führe. Womit, sagen Sie, lässt es sich entschuldigen, dass Marquis Posa, anstatt dem Prinzen gerade heraus das Verhältnis zu entdecken, worin er jetzt mit dem Könige steht, anstatt sich auf eine vernünftige Art mit ihm über die nötigen Maßregeln zu bereden und, indem er ihn zum Mitwisser seines Planes macht, auf einmal allen Übereilungen vorzubeugen, wozu Unwissenheit, Misstrauen, Furcht und unbesonnene Hitze den Prinzen sonst hinreißen könnten und auch wirklich nachher hingerissen haben, dass er, anstatt diesen so unschuldigen, so natürlichen Weg einzuschlagen, lieber die äußerste Gefahr läuft, lieber diese so leicht zu verhütenden Folgen erwartet und sie alsdann, wenn sie wirklich eingetroffen, durch ein Mittel zu verbessern sucht, das eben so unglücklich ausschlagen kann, als es brutal und unnatürlich ist, nämlich durch die Verhaftnehmung des Prinzen? Er kannte das lenksame Herz seines Freundes. Noch kürzlich ließ ihn der Dichter eine Probe der Gewalt ablegen, mit der er solches beherrschte. Zwei Worte hätten ihm diesen widrigen Behelf erspart. Warum nimmt er seine Zuflucht zur Intrige, wo er durch ein gerades Verfahren ungleich schneller und ungleich sicherer zum Ziel würde gekommen sein? 

   Weil dieses gewalttätige und fehlerhafte Betragen des Maltesers alle nachfolgenden Situationen und vorzüglich seine Aufopferung herbeigeführt hat, so setzte man, ein wenig rasch, voraus, dass sich der Dichter von diesem unbedeutenden Gewinn habe hinreißen lassen, der innern Wahrheit dieses Charakters Gewalt anzutun und den natürlichen Lauf der Handlung zu verlenken. Da dieses allerdings der bequemste und kürzeste Weg war, sich in dieses seltsame Betragen des Maltesers zu finden, so suchte man in dem ganzen Zusammenhang dieses Charakters keinen nähern Aufschluss mehr; denn das wäre zu viel von einem Kritiker verlangt, mit seinem Urteil bloß darum zurückzuhalten, weil der Schriftsteller übel dabei fährt. Aber einiges Recht glaubte ich mir doch aus diese Billigkeit erworben zu haben, weil in dem Stück mehr als einmal die glänzendere Situation der Wahrheit nachgesetzt worden ist. 

   Unstreitig, der Charakter des Marquis von Posa hätte an Schönheit und Reinlichkeit gewonnen, wenn er durchaus gerader gehandelt hätte und über die unedlen Hilfsmittel der Intrige immer erhaben geblieben wäre. Auch gestehe ich, dieser Charakter ging mir nahe, aber, was ich für Wahrheit hielt, ging mir näher. Ich halte für Wahrheit: „Dass Liebe zu einem wirklichen Gegenstand und Liebe zu einem Ideal sich in ihren Wirkungen ebenso ungleich sein müssen, als sie in ihrem Wesen voneinander verschieden sind – dass der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den Individuen zu schalten als nur immer der selbstsüchtigste Despot, weil der Gegenstand von beider Bestrebungen in ihnen, nicht außer ihnen wohnt, und weil jener, der seine Handlungen nach einem innern Geistesbild modelt, mit der Freiheit anderer beinahe ebenso im Streit liegt, als dieser, dessen letztes Ziel sein eignes Ich ist.“ Wahre Größe des Gemüts führt oft nicht weniger zu Verletzungen fremder Freiheit, als der Egoismus und die Herrschsucht, weil sie um der Handlung, nicht um des einzelnen Subjekts willen handelt. Eben weil sie in steter Hinsicht auf das Ganze wirkt, verschwindet nur allzu leicht das kleinere Interesse des Individuums in diesem weiten Prospekt. Die Tugend handelt groß um des Gesetzes willen, die Schwärmerei um ihres Ideales willen, die Liebe um des Gegenstandes willen. Aus der ersten Klasse wollen wir uns Gesetzgeber, Richter, Könige, aus der zweiten Helden, aber nur aus der dritten unsern Freund erwählen. Diese erste verehren, die zweite bewundern, die dritte lieben wir. Carlos hat Ursache gefunden, es zu bereuen, dass er diesen Unterschied außer Acht ließ und einen großen Mann zu seinem Busenfreund machte. 

   „Was geht die Königin dich an? Liebst du
Die Königin? Soll deine strenge Tugend
Die kleinen Sorgen meiner Liebe fragen?
– – – – Ach, hier ist nichts verdammbar,
Nichts, nichts, als meine rasende Verblendung,
Bis diesen Tag nicht eingesehen zu haben,
Dass du so – groß als zärtlich bist.“ 

   Geräuschlos, ohne Gehilfen, in stiller Größe zu wirken, ist des Marquis Schwärmerei. Still, wie die Vorsicht für einen Schlafenden sorgt, will er seines Freundes Schicksal auflösen, er will ihn retten, wie ein Gott – und eben dadurch richtet er ihn zugrunde. Dass er zu sehr nach seinem Ideal von Tugend in die Höhe und zu wenig auf seinen Freund herunterblickte, wurde beider Verderben. Carlos verunglückte, weil sein Freund sich nicht begnügte, ihn auf eine gemeine Art zu erlösen. 

   Und hier, deucht mir, treffe ich mit einer nicht unmerkwürdigen Erfahrung aus der moralischen Welt zusammen, die keinem, der sich nur einigermaßen Zeit genommen hat, um sich herumzuschauen oder dem Gang seiner eigenen Empfindungen zuzusehen, ganz fremd sein kann. Es ist diese: Dass die moralischen Motive, welche von einem zu erreichenden Ideal von Vortrefflichkeit hergenommen sind, nicht natürlich im Menschenherzen liegen und eben darum, weil sie erst durch Kunst in dasselbe hineingebracht worden, nicht immer wohltätig wirken, gar oft aber durch einen sehr menschlichen Übergang einem schädlichen Missbrauch ausgesetzt sind. Durch praktische Gesetze, nicht durch gekünstelte Geburten der theoretischen Vernunft, soll der Mensch bei seinem moralischen Handeln geleitet werden. Schon allein dieses, dass jedes solche moralische Ideal oder Kunstgebäude doch nie mehr ist als eine Idee, die, gleich allen andern Ideen, an dem eingeschränkten Gesichtspunkt des Individuums Teil nimmt, dem sie angehört, und in ihrer Anwendung also auch der Allgemeinheit nicht fähig sein kann, in welcher der Mensch sie zu gebrauchen pflegt, schon dieses allein, sage ich, müsste sie zu einem äußerst gefährlichen Instrument in seinen Händen machen: Aber noch weit gefährlicher wird sie durch die Verbindung, in die sie nur allzu schnell mit gewissen Leidenschaften tritt, die sich mehr oder weniger in allen Menschenherzen finden; Herrschsucht meine ich, Eigendünkel und Stolz, die sie augenblicklich ergreifen und sich unzertrennbar mit ihr vermengen. Nennen Sie mir, lieber Freund – um aus unzähligen Beispielen nur eins auszuwählen – nennen Sie mir den Ordensstifter oder auch die Ordensverbrüderung selbst, die sich – bei den reinsten Zwecken und bei den edelsten Trieben – von Willkürlichkeit in der Anwendung, von Gewalttätigkeit gegen fremde Freiheit, von dem Geist der Heimlichkeit und der Herrschsucht immer rein erhalten hätte? Die bei Durchsetzung eines, von jeder unreinen Beimischung auch noch so freien moralischen Zwecks, insofern sie sich nämlich diesen Zweck als etwas für sich Bestehendes denken und ihn in der Lauterkeit erreichen wollten, wie er sich ihrer Vernunft dargestellt hatte, nicht unvermerkt wären fortgerissen worden, sich an fremder Freiheit zu vergreifen, die Achtung gegen anderer Rechte, die ihnen sonst immer die heiligsten waren, hintanzusetzen und nicht selten den willkürlichsten Despotismus zu üben, ohne den Zweck selbst umgetauscht, ohne in ihren Motiven ein Verderbnis erlitten zu haben. Ich erkläre mir diese Erscheinung aus dem Bedürfnis der beschränkten Vernunft, sich ihren Weg abzukürzen, ihr Geschäft zu vereinfachen und Individualitäten, die sie zerstreuen und verwirren, in Allgemeinheit zu verwandeln; aus der allgemeinen Hinneigung unsers Gemüts zur Herrschbegierde oder dem Bestreben, alles wegzudrängen, was das Spiel unserer Kräfte hindert. Ich wählte deswegen einen ganz wohlwollenden, ganz über jede selbstsüchtige Begierde erhabenen Charakter, ich gab ihm die höchste Achtung für anderer Rechte, ich gab ihm die Hervorbringung eines allgemeinen Freiheitsgenusses sogar zum Zweck, und ich glaube mich auf keinem Widerspruch mit der allgemeinen Erfahrung zu befinden, wenn ich ihn, selbst auf dem Weg dahin, in Despotismus verirren ließ. Es lag in meinem Plan, dass er sich in dieser Schlinge verstricken sollte, die allen gelegt ist, die sich auf einerlei Wege mit ihm befinden. Wie viel hätte mir es auch gekostet, ihn wohlbehalten davon vorbeizubringen und dem Leser, der ihn lieb gewann, den unvermischten Genuss aller übrigen Schönheiten seines Charakters zu geben, wenn ich es nicht für einen ungleich größeren Gewinn gehalten hätte, der menschlichen Natur zur Seite zu bleiben und eine nie genug zu beherzigende Erfahrung durch sein Beispiel zu bestätigen. Diese meine ich, dass man sich in moralischen Dingen nicht ohne Gefahr von dem natürlichen praktischen Gefühl entfernt, um sich zu allgemeinen Abstraktionen* zu erheben, dass sich der Mensch weit sicherer den Eingebungen seines Herzens oder dem schon gegenwärtigen und individuellen Gefühl von Recht und Unrecht vertraut, als der gefährlichen Leitung universeller Vernunftideen, die er sich künstlich erschaffen hat – denn nichts führt zum Guten, was nicht natürlich ist.

 

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