Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Briefe über Don Carlos

 

Dritter Brief

   Sie wollten neulich im Don Carlos den Beweis gefunden haben, dass leidenschaftliche Freundschaft ein ebenso rührender Gegenstand für die Tragödie sein könne, als leidenschaftliche Liebe, und meine Antwort, dass ich mir das Gemälde einer solchen Freundschaft für die Zukunft zurückgelegt hätte, befremdete Sie. Also auch Sie nehmen es, wie die meisten meiner Leser, als ausgemacht an, dass es schwärmerische Freundschaft gewesen, was ich mir in dem Verhältnis zwischen Carlos und Marquis Posa zum Ziel gesetzt habe? Und aus diesem Standpunkt haben Sie folglich diese beiden Charaktere und vielleicht das ganze Drama bisher betrachtet? Wie aber, lieber Freund, wenn Sie mir mit dieser Freundschaft wirklich zu viel getan hätten? Wenn es aus dem ganzen Zusammenhang deutlich erhellte, dass sie dieses Ziel nicht gewesen und auch schlechterdings nicht sein konnte? Wenn sich der Charakter des Marquis, sowie er aus dem Total seiner Handlungen hervorgeht, mit einer solchen Freundschaft durchaus nicht vertrüge und wenn sich gerade aus seinen schönsten Handlungen, die man auf ihre Rechnung schreibt, der beste Beweis für das Gegenteil führen ließe? 

   Die erste Ankündigung des Verhältnisses zwischen diesen beiden könnte irregeführt haben; aber dies auch nur scheinbar und eine geringe Aufmerksamkeit auf das abstechende Benehmen beider hätte hingereicht, den Irrtum zu heben. Dadurch, dass der Dichter von ihrer Jugendfreundschaft ausgeht, hat er sich nichts von seinem höhern Plan vergeben; im Gegenteil konnte dieser aus keinem bessern Faden gesponnen werden. Das Verhältnis, in welchem beide zusammen auftreten, war Reminiszenz ihrer früheren akademischen Jahre. Harmonie der Gefühle, eine gleiche Liebhaberei für das Große und Schöne, ein gleicher Enthusiasmus für Wahrheit, Freiheit und Tugend hatte sie damals aneinander geknüpft. Ein Charakter, wie Posas, der sich nachher so, wie es in dem Stück geschieht, entfaltet, musste früh angefangen haben, diese lebhafte Empfindungskraft an einem fruchtbaren Gegenstand zu üben: Ein Wohlwollen, das sich in der Folge über die ganze Menschheit erstrecken sollte, musste von einem engeren Band ausgegangen sein. Dieser schöpferische und feurige Geist musste bald einen Stoff haben, auf den er wirkte; konnte sich ihm ein schönerer anbieten, als ein zart und lebendig fühlender, seiner Ergießungen empfänglicher, ihm freiwillig entgegen eilender Fürstensohn? Aber auch schon in diesen früheren Zeiten ist der Ernst dieses Charakters in einigen Zügen sichtbar; schon hier ist Posa der kältere, der spätere Freund, und sein Herz, jetzt schon zu weit umfassend, um sich für ein einziges Wesen zusammenzuziehen, muss durch ein schweres Opfer errungen werden. 

   „Da fing ich an mit Zärtlichkeiten
Und inniger Bruderliebe dich zu quälen;
Du stolzes Herz gabst sie mir kalt zurück.
– Verschmähen konntest du mein Herz, doch nie
Von dir entfernen. Dreimal wiesest du
Den Fürsten von dir, dreimal stand er wieder
Als Bettler da, um Liebe dich zu flehn usf.
– – – – Mein königliches Blut
Floss schändlich unter unbarmherz’gen Streichen:
So hoch kam mir der Eigensinn zu stehn,
Von Rodrigo geliebt zu sein.“ 

Hier schon sind einige Winke gegeben, wie wenig die Anhänglichkeit des Marquis an den Prinzen auf persönliche Übereinstimmung sich gründet. Früh denkt er sich ihn als Königssohn, früh drängt sich diese Idee zwischen sein Herz und seinen bittenden Freund. Carlos öffnet ihm seine Arme; der junge Weltbürger kniet vor ihm nieder. Gefühle für Freiheit und Menschenadel waren früher in seiner Seele reif, als Freundschaft für Carlos; dieser Zweig wurde erst nachher auf diesen stärkeren Stamm gepfropft. Selbst in dem Augenblick, wo sein Stolz durch das große Opfer seines Freundes bezwungen ist, verliert er den Fürstensohn nicht aus den Augen. „Ich will bezahlen“, sagt er, „wenn du – König bist.“ Ist es möglich, dass sich in einem so jungen Herzen, bei diesem lebendigen und immer gegenwärtigen Gefühl der Ungleichheit ihres Standes, Freundschaft erzeugen konnte, deren wesentliche Bedingung doch Gleichheit ist? Also auch damals schon war es weniger Liebe als Dankbarkeit, weniger Freundschaft als Mitleid, was den Marquis dem Prinzen gewann. Die Gefühle, Ahnungen, Träume, Entschlüsse, die sich dunkel und verworren in dieser Knabenseele drängten, mussten mitgeteilt, in einer andern Seele angeschaut werden und Carlos war der Einzige, der sie mit ahnen, mit träumen konnte und der sie erwiderte. Ein Geist, wie Posas, musste seine Überlegenheit frühzeitig zu genießen streben und der liebevolle Karl schmiegte sich so unterwürfig, so gelehrig an ihn an! Posa sah in diesem schönen Spiegel sich selbst und freute sich seines Bildes. So entstand diese akademische Freundschaft. 

   Aber jetzt werden sie voneinander getrennt und alles wird anders. Carlos kommt an den Hof seines Vaters und Posa wirft sich in die Welt. Jener, durch seine frühe Anhänglichkeit an den edelsten und feurigsten Jüngling verwöhnt, findet in dem ganzen Umkreis eines Despotenhofes nichts, was sein Herz befriedigte. Alles um ihn her ist leer und unfruchtbar. Mitten im Gewühl so vieler Höflinge einsam, von der Gegenwart gedrückt, labt er sich an süßen Rückerinnerungen der Vergangenheit. Bei ihm also dauern diese frühen Eindrücke warm und lebendig fort und sein zum Wohlwollen gebildetes Herz, dem ein würdiger Gegenstand mangelt, verzehrt sich in nie befriedigten Träumen. So versinkt er allmählich in einen Zustand müßiger Schwärmerei, untätiger Betrachtung. In dem fortwährenden Kampf mit seiner Lage nützen sich seine Kräfte ab, die unfreundlichen Begegnungen eines ihm so ungleichen Vaters verbreiten eine düstere Schwermut über sein Wesen – den zehrenden Wurm jeder Geistesblüte, den Tod der Begeisterung. Zusammengedrückt, ohne Energie, geschäftslos hinbrütend in sich selbst, von schweren fruchtlosen Kämpfen ermattet, zwischen schreckhaften Extremen herumgescheucht, keines eigenen Aufschwungs mehr mächtig – so findet ihn die erste Liebe. In diesem Zustand kann er ihr keine Kraft mehr entgegensetzen; alle jene frühern Ideen, die ihr allein das Gleichgewicht hätten halten können, sind seiner Seele fremder geworden; sie beherrscht ihn mit despotischer Gewalt; so versinkt er in einen schmerzhaft wollüstigen Zustand des Leidens. Auf einen einzigen Gegenstand sind jetzt alle seine Kräfte zusammengezogen. Ein nie gestilltes Verlangen hält seine Seele innerhalb ihrer selbst gefesselt. – Wie sollte sie ins Universum ausströmen? Unfähig, diesen Wunsch zu befriedigen, unfähiger noch, ihn durch innere Kraft zu besiegen, schwindet er halb lebend, halb sterbend, in sichtbarer Zehrung hin; keine Zerstreuung für den brennenden Schmerz seines Busens, kein mitfühlendes, sich ihm öffnendes Herz, in das er ihn ausströmen könnte. 

   „Ich habe niemand – niemand
Auf dieser großen weiten Erde, niemand;
Soweit das Szepter meines Vaters reicht,
Soweit die Schifffahrt unsre Flaggen sendet,
Ist keine Stelle, keine, keine, wo
Ich meiner Tränen mich entlasten kann.“ 

Hilflosigkeit und Armut des Herzens führen ihn jetzt auf eben den Punkt zurück, wo Fülle des Herzens ihn hatte ausgehen lassen. Heftiger fühlt er das Bedürfnis der Sympathie, weil er allein ist und unglücklich. So findet ihn sein zurückkommender Freund. 
   Ganz anders ist es unterdessen diesem ergangen. Mit offenen Sinnen, mit allen Kräften der Jugend, allem Drang des Genies, aller Wärme des Herzens in das weite Universum geworfen, sieht er den Menschen im Großen wie im Kleinen handeln; er findet Gelegenheit, sein mitgebrachtes Ideal an den wirkenden Kräften der ganzen Gattung zu prüfen. Alles, was er hört, was er sieht, wird mit lebendigem Enthusiasmus von ihm verschlungen, alles in Beziehung auf jenes Ideal empfunden, gedacht und verarbeitet. Der Mensch zeigt sich ihm in mehreren Varietäten; in mehreren Himmelsstrichen, Verfassungen, Graden der Bildung und Stufen des Glückes lernt er ihn kennen. So erzeugt sich in ihm allmählich eine zusammengesetzte und erhabene Vorstellung des Menschen im Großen und Ganzen, gegen welche jedes einengende kleinere Verhältnis verschwindet. Aus sich selbst tritt er jetzt heraus, im großen Weltraum dehnt sich seine Seele ins Weite. – Merkwürdige Menschen, die sich in seine Bahn werfen, zerstreuen seine Aufmerksamkeit, teilen sich in seine Achtung und Liebe. – An die Stelle eines Individuums tritt bei ihm jetzt das ganze Geschlecht; ein vorübergehender jugendlicher Affekt* erweitert sich in eine allumfassende unendliche Philanthropie. Aus einem müßigen Enthusiasten ist ein tätiger handelnder Mensch geworden. Jene ehemaligen Träume und Ahnungen, die noch dunkel und unentwickelt in seiner Seele lagen, haben sich zu klaren Begriffen geläutert, müßige Entwürfe in Handlung gesetzt, ein allgemeiner unbestimmter Drang zu wirken, ist in zweckmäßige Tätigkeit übergegangen. Der Geist der Völker wird von ihm studiert, ihre Kräfte, ihre Hilfsmittel abgewogen, ihre Verfassungen geprüft; im Umgang mit verwandten Geistern gewinnen seine Ideen Vielseitigkeit und Form; geprüfte Weltleute, wie ein Wilhelm von Oranien, Coligny u.a., nehmen ihnen das Romantische und stimmen sie allmählich zu pragmatischer Brauchbarkeit herunter.

   Bereichert mit tausend neuen fruchtbaren Begriffen, voll strebender Kräfte, schöpferischer Triebe, kühner und weit umfassender Entwürfe, mit geschäftigem Kopf, glühendem Herzen, von den großen begeisternden Ideen allgemeiner menschlicher Kraft und menschlichen Adels durchdrungen und feuriger für die Glückseligkeit dieses großen Ganzen entzündet, das ihm in so vielen Individuen vergegenwärtigt war1), so kommt er jetzt von der großen Ernte zurück, brennend von Sehnsucht, einen Schauplatz zu finden, auf welchem er diese Ideale realisieren, diese gesammelten Schätze in Anwendung bringen könnte. Flanderns Zustand bietet sich ihm dar. Alles findet er hier zu einer Revolution zubereitet. Mit dem Geist, den Kräften und Hilfsquellen dieses Volks bekannt, die er gegen die Macht seines Unterdrückers berechnet, sieht er das große Unternehmen schon als geendigt an. Sein Ideal republikanischer Freiheit kann kein günstigeres Moment und keinen empfänglicheren Boden finden.

   „So viele reiche blühende Provinzen!
Ein kräftiges und großes Volk, und auch
Ein gutes Volk, und Vater dieses Volks,
Das, dacht’ ich, das muss göttlich sein.“ 

Je elender er dieses Volk findet, desto näher drängt sich dieses Verlangen an sein Herz, desto mehr eilt er, es in Erfüllung zu bringen. Hier, und hier erst, erinnert er sich lebhaft des Freundes, den er, mit glühenden Gefühlen für Menschenglück, in Alcala* verließ. Ihn denkt er sich jetzt als Retter der unterdrückten Nation, als das Werkzeug seiner hohen Entwürfe. Voll unaussprechlicher Liebe, weil er ihn mit der Lieblingsangelegenheit seines Herzens zusammen denkt, eilt er nach Madrid in seine Arme, jene Samenkörner von Humanität und heroischer Tugend, die er einst in seine Seele gestreut, jetzt in vollen Saaten zu finden und in ihm den Befreier der Niederlande, den künftigen Schöpfer seines geträumten Staats zu umarmen. 

   Leidenschaftlicher als jemals, mit fiebrischer Heftigkeit stürzt ihm dieser entgegen. 

   „Ich drück’ an meine Seele dich, ich fühle
Die deinige allmächtig an mir schlagen.
O, jetzt ist alles wieder gut. Ich liege
Am Halse meines Rodrigo.“ 

Der Empfang ist der feurigste: Aber wie beantwortet ihn Posa? Er, der seinen Freund in voller Blüte der Jugend verließ und ihn jetzt einer wandelnden Leiche gleich wieder findet, verweilt er bei dieser traurigen Veränderung? Forscht er lange und ängstlich nach ihren Quellen? Steigt er zu den kleineren Angelegenheiten seines Freundes herunter? Bestürzt und ernsthaft erwidert er diesen unwillkommenen Empfang. 

   „So war es nicht, wie ich Don Philipps Sohn
Erwartete – – Das ist
Der löwenkühne Jüngling nicht, zu dem
Ein unterdrücktes Heldenvolk mich sendet –
Denn jetzt steh’ ich als Rodrigo nicht hier,
Nicht als des Knaben Carlos Spielgeselle –
Ein Abgeordneter der ganzen Menschheit
Umarm’ ich Sie – es sind die flandrischen
Provinzen, die an Ihrem Halse weinen“ usf. 

   Unfreiwillig entwischt ihm seine herrschende Idee gleich in den ersten Augenblicken des so lang entbehrten Wiedersehens, wo man sich doch sonst so viel wichtigere Kleinigkeiten zu sagen hat, und Carlos muss alles Rührende seiner Lage aufbieten, muss die entlegensten Szenen der Kindheit hervorrufen, um diese Lieblingsidee seines Freundes zu verdrängen, sein Mitgefühl zu wecken und ihn auf seinen eigenen traurigen Zustand zu heften. Schrecklich sieht sich Posa in den Hoffnungen getäuscht, mit denen er seinem Freund zueilte. Einen Heldencharakter hatte er erwartet, der sich nach Taten sehnte, wozu er ihm jetzt den Schauplatz eröffnen wollte. Er rechnete auf jenen Vorrat von erhabener Menschenliebe, auf das Gelübde, das er ihm in jenen schwärmerischen Tagen auf die entzweigebrochene Hostie getan und findet Leidenschaft für die Gemahlin seines Vaters. – 

   „Das ist der Karl nicht mehr,
Der in Alcala* von dir Abschied nahm,
Der Karl nicht mehr, der sich beherzt getraute
Das Paradies dem Schöpfer abzusehen,
Und dermaleinst, als unumschränkter Fürst,
In Spanien zu pflanzen. O! Der Einfall
War kindisch, aber göttlich schön. Vorbei
Sind diese Träume!“ – 

Eine hoffnungslose Leidenschaft, die alle seine Kräfte verzehrt, die sein Leben selbst in Gefahr setzt. Wie würde ein sorgsamer Freund des Prinzen, der aber ganz nur Freund allein, und mehr nicht gewesen wäre, in dieser Lage gehandelt haben? Und wie hat Posa, der Weltbürger, gehandelt? Posa, des Prinzen Freund und Vertrauter, hätte viel zu sehr für die Sicherheit seines Carlos gezittert, als dass er es hätte wagen sollen, zu einer gefährlichen Zusammenkunft mit seiner Königin die Hand zu bieten. Des Freundes Pflicht wäre es gewesen, auf Erstickung dieser Leidenschaft und keineswegs auf ihre Befriedigung zu denken. Posa, der Sachwalter Flanderns, handelt ganz anders. Ihm ist nichts wichtiger, als diesen hoffnungslosen Zustand, in welchem die tätigen Kräfte seines Freundes versinken, auf das schnellste zu endigen, sollte es auch ein kleines Wagestück kosten. Solange sein Freund in unbefriedigten Wünschen verschmachtet, kann er fremdes Leiden nicht fühlen; solange seine Kräfte von Schwermut niedergedrückt sind, kann er sich zu keinem heroischen Entschluss erheben. Von dem unglücklichen Carlos hat Flandern nichts zu hoffen, aber vielleicht von dem glücklichen. Er eilt also, seinen heißesten Wunsch zu befriedigen, er selbst führt ihn zu den Füßen seiner Königin; und dabei allein bleibt er nicht stehen. Er findet in des Prinzen Gemüt die Motive nicht mehr, die ihn sonst zu heroischen Entschlüssen erhoben hatten: Was kann er anders tun, als diesen erloschenen Heldengeist an fremdem Feuer entzünden und die einzige Leidenschaft nutzen, die in der Seele des Prinzen vorhanden ist? An diese muss er die neuen Ideen anknüpfen, die er jetzt bei ihr herrschend machen will. Ein Blick in der Königin Herz überzeugt ihn, dass er von ihrer Mitwirkung alles erwarten darf. Nur der erste Enthusiasmus ist es, den er von dieser Leidenschaft entlehnen will. Hat sie dazu geholfen, seinem Freund diesen heilsamen Schwung zu geben, so bedarf er ihrer nicht mehr, und er kann gewiss sein, dass sie durch ihre eigene Wirkung zerstört werden wird. Also selbst dieses Hindernis, das sich seiner großen Angelegenheit entgegen warf, selbst diese unglückliche Liebe, wird jetzt in ein Werkzeug zu jenem wichtigern Zweck umgeschaffen und Flanderns Schicksal muss durch den Mund der Liebe an das Herz seines Freundes reden.

   „– In dieser hoffnungslosen Flamme
Erkannt’ ich früh der Hoffnung goldnen Strahl
Ich wollt’ ihn führen zum Vortrefflichen;
Die stolze königliche Frucht, woran
Nur Menschenalter langsam pflanzen, sollte
Ein schneller Lenz der wundertät’gen Liebe
Beschleunigen. Mir sollte seine Tugend
An diesem kräft’gen Sonnenblick reifen.“ 

   Aus den Händen der Königin empfängt jetzt Carlos die Briefe, welche Posa aus Flandern für ihn mitbrachte. Die Königin ruft seinen entflohenen Genius zurück. 

   Noch sichtbarer zeigt sich diese Unterordnung der Freundschaft unter das wichtigere Interesse bei der Zusammenkunft im Kloster. Ein Entwurf des Prinzen auf den König ist fehlgeschlagen; dieses und eine Entdeckung, welche er zum Vorteil seiner Leidenschaft glaubt gemacht zu haben, stürzen ihn heftiger in diese zurück und Posa glaubt zu bemerken, dass sich Sinnlichkeit in diese Leidenschaft mische. Nichts konnte sich weniger mit seinem höhern Plan vertragen. Alle Hoffnungen, die er auf Carlos’ Liebe zur Königin für seine Niederlande gegründet hat, stürzten dahin, wenn diese Liebe von ihrer Höhe herunter sank. Der Unwille, den er darüber empfindet, bringt seine Gesinnungen an den Tag. 

   „O, ich fühle,
Wovon ich mich entwöhnen muss. Ja, einst,
Einst war’s ganz anders. Da warst du so reich,
So warm, so reich! Ein ganzer Weltkreis hatte
In deinem weiten Busen Raum. Das alles
Ist nun dahin, von einer Leidenschaft,
Von einem kleinen Eigennutz verschlungen:
Dein Herz ist ausgestorben. Keine Träne
Dem ungeheueren Schicksal der Provinzen,
Nicht einmal eine Träne mehr! O, Karl,
Wie arm bist du, wie bettelarm geworden,
Seitdem du niemand liebst, als dich!“ 

Bang vor einem ähnlichen Rückfall, glaubt er einen gewaltsamen Schritt wagen zu müssen. Solange Karl in der Nähe der Königin bleibt, ist er für die Angelegenheit Flanderns verloren. Seine Gegenwart in den Niederlanden kann dort den Dingen eine ganz andere Wendung geben; er steht also keinen Augenblick an, ihn auf die gewaltsamste Art dahin zu bringen. 

   „Er soll
Dem König ungehorsam werden, soll
Nach Brüssel heimlich sich begeben, wo
Mit offnen Armen die Flamänder ihn
Erwarten. Alle Niederlande stehen
Auf seine Losung auf. Die gute Sache
Wird stark durch einen Königssohn.“ 

Würde der Freund des Carlos es über sich vermocht haben, so verwegen mit dem guten Namen, ja selbst mit dem Leben seines Freundes zu spielen? Aber Posa, dem die Befreiung eines unterdrückten Volks eine weit dringendere Aufforderung war, als die kleinen Angelegenheiten eines Freundes, Posa, der Weltbürger, musste gerade so und nicht anders handeln. Alle Schritte, die im Verlauf des Stücks von ihm unternommen werden, verraten eine wagende Kühnheit, die ein heroischer Zweck allein einzuflößen imstande ist; Freundschaft ist oft verzagt und immer besorglich. Wo ist bis jetzt im Charakter des Marquis auch nur eine Spur dieser ängstlichen Pflege eines isolierten Geschöpfs, dieser alles ausschließenden Neigung, worin doch allein der eigentümliche Charakter der leidenschaftlichen Freundschaft besteht? Wo ist bei ihm das Interesse für den Prinzen nicht dem höhern Interesse für die Menschheit untergeordnet? Fest und beharrlich geht der Marquis seinen großen kosmopolitischen Gang, und alles, was um ihn herum vorgeht, wird ihm nur durch die Verbindung wichtig, in der es mit diesem höhern Gegenstand steht. 

 

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1) In seiner nachherigen Unterredung mit dem König kommen diese Lieblingsideen an den Tag. Ein Federzug von Ihrer Hand, sagt er ihm, und neu erschaffen wird die Erde. Geben Sie Gedankenfreiheit. Lassen Sie 

„Großmütig wie der Starke Menschenglück
Aus Ihrem Füllhorn strömen, Geister reifen
In Ihrem Weltgebäude.
   Stellen Sie der Menschheit
Verlornen Adel wieder her. Der Bürger
Sei wiederum, was er zuvor gewesne,
Der Krone Zweck, ihn binde keine Pflicht,
Als seiner Brüder gleichehrwürd’ge Rechte.
Der Landmann rühme sich des Pflugs, und gönne
Dem König, der nicht Landmann ist, die Krone.
In seiner Werkstatt träume sich der Künstler
Zum Bildner einer schönern Welt. Den Flug 
Des Denkers hemme keine Schranke mehr,
Als die Bedingung endlicher Naturen. ­