Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Über das Pathetische1)

   Darstellung des Leidens – als bloßen Leidens – ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig. Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des Übersinnlichen und die tragische Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, dass sie uns die moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekts* versinnlicht. Nur der Widerstand, den es gegen die Gewalt der Gefühle äußert, macht das freie Prinzip in uns kenntlich; der Widerstand aber kann nur nach der Stärke des Angriffs geschätzt werden. Soll sich also die Intelligenz im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so muss die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das Sinnenwesen muss tief und heftig leiden; Pathos muss da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne.

   Man kann niemals wissen, ob die Fassung des Gemüts eine Wirkung seiner moralischen Kraft ist, wenn man nicht überzeugt worden ist, dass sie keine Wirkung der Unempfindlichkeit ist. Es ist keine Kunst, über Gefühle Meister zu werden, die nur die Oberfläche der Seele leicht und flüchtig bestreichen; aber in einem Sturm, der die ganze sinnliche Natur aufregt, seine Gemütsfreiheit zu behalten, dazu gehört ein Vermögen des Widerstandes, das über alle Naturmacht unendlich erhaben ist. Man gelangt also zur Darstellung der moralischen Freiheit nur durch die lebendigste Darstellung der leidenden Natur und der tragische Held muss sich erst als empfindendes Wesen bei uns legitimiert haben, ehe wir ihm als Vernunftwesen huldigen und an seine Seelenstärke glauben. 

   Pathos ist also die erste und unnachlässliche Forderung an den tragischen Künstler und es ist ihm erlaubt, die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, ohne Nachtheil für seinen letzten Zweck, ohne Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann. Er muss gleichsam seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben, weil es sonst immer problematisch bleibt, ob sein Widerstand gegen dasselbe eine Gemütshandlung, etwas Positives und nicht vielmehr bloß etwas Negatives und ein Mangel ist. 

   Dies letztere ist der Fall bei dem Trauerspiel der ehemaligen Franzosen, wo wir höchst selten oder nie die leidende Natur zu Gesicht bekommen, sondern meistens nur den kalten, deklamatorischen Poeten oder auch den auf Stelzen gehenden Komödianten sehen. Der frostige Ton der Deklamation erstickt alle wahre Natur und den französischen Tragikern macht es ihre angebetete Dezenz vollends ganz unmöglich, die Menschheit in ihrer Wahrheit zu zeichnen. Die Dezenz verfälscht überall, auch wenn sie an ihrer rechten Stelle ist, den Ausdruck der Natur und doch fordert diesen die Kunst unnachlässlich. Kaum können wir es einem französischen Trauerspielhelden glauben, dass er leidet, denn er lässt sich über seinen Gemütszustand heraus, wie der ruhigste Mensch, und die unaufhörliche Rücksicht auf den Eindruck, den er auf andere macht, erlaubt ihm nie, der Natur in sich ihre Freiheit zu lassen. Die Könige, Prinzessinnen und Helden eines Corneille und Voltaire vergessen ihren Rang auch im heftigsten Leiden nie und ziehen weit eher ihre Menschheit als ihre Würde aus. Sie gleichen den Königen und Kaisern in den alten Bilderbüchern, die sich mit samt der Krone zu Bett legen. 

   Wie ganz anders sind die Griechen und diejenigen unter den Neuern, die in ihrem Geist gedichtet haben. Nie schämt sich der Grieche der Natur, er lässt der Sinnlichkeit ihre vollen Rechte und ist dennoch sicher, dass er nie von ihr unterjocht werden wird. Sein tiefer und richtiger Verstand lässt ihn das Zufällige, das der schlechte Geschmack zum Hauptwerk macht, von dem Notwendigen unterscheiden; alles aber, was nicht Menschheit ist, ist zufällig an dem Menschen. Der griechische Künstler, der einen Laokoon, eine Niobe, einen Philoktet darzustellen hat, weiß von keiner Prinzessin, keinem König und keinem Königssohn; er hält sich nur an den Menschen. Deswegen wirft der weise Bildhauer die Bekleidung weg und zeigt uns bloß nackende Figuren, ob er gleich sehr gut weiß, dass dies im wirklichen Leben nicht der Fall war. Kleider sind ihm etwas Zufälliges, dem das Notwendige niemals nachgesetzt werden darf und die Gesetze des Anstands oder des Bedürfnisses sind nicht die Gesetze der Kunst. Der Bildhauer soll und will uns den Menschen zeigen und Gewänder verbergen denselben; also verwirft er sie mit Recht. 

   Ebenso wie der griechische Bildhauer die unnütze und hinderliche Last der Gewänder hinweg wirft, um der menschlichen Natur mehr Platz zu machen, so entbindet der griechische Dichter seine Menschen von dem ebenso unnützen und ebenso hinderlichen Zwang der Konvenienz und von allen frostigen Anstandsgesetzen, die an dem Menschen nur künsteln und die Natur an ihm verbergen. Die leidende Natur spricht wahr, aufrichtig und tief eindringend zu unserm Herzen in der Homerischen Dichtung und in den Tragikern; alle Leidenschaften haben ein freies Spiel und die Regel des Schicklichen hält kein Gefühl zurück. Die Helden sind für alle Leiden der Menschheit so gut empfindlich als andere und eben das macht sie zu Helden, dass sie das Leiden stark und innig fühlen, und doch nicht davon überwältigt werden. Sie lieben das Leben so feurig wie wir andern, aber diese Empfindung beherrscht sie nicht so sehr, dass sie es nicht hingeben können, wenn die Pflichten der Ehre oder der Menschlichkeit es fordern. Philoktet erfüllt die griechische Bühne mit seinen Klagen; selbst der wütende Herkules unterdrückt seinen Schmerz nicht. Die zum Opfer bestimmte Iphigenia gesteht mit rührender Offenheit, dass sie von dem Licht der Sonne mit Schmerzen scheide. Nirgends sucht der Grieche in der Abstumpfung und Gleichgültigkeit gegen das Leiden seinen Ruhm, sondern in Ertragung desselben bei allem Gefühl für dasselbe. Selbst die Götter der Griechen müssen der Natur einen Tribut entrichten, sobald sie der Dichter der Menschheit näher bringen will. Der verwundete Mars* schreit vor Schmerz so laut auf, wie zehntausend Mann und die von einer Lanze geritzte Venus steigt weinend zum Olymp und verschwört alle Gefechte. 

   Diese zarte Empfindlichkeit für das Leiden, diese warme, aufrichtige, wahr und offen daliegende Natur, welche uns in den griechischen Kunstwerken so tief und lebendig rührt, ist ein Muster der Nachahmung für alle Künstler und ein Gesetz, das der griechische Genius der Kunst vorgeschrieben hat. Die erste Forderung an den Menschen macht immer und ewig die Natur, welche niemals darf abgewiesen werden; denn der Mensch ist – ehe er etwas anderes ist – ein empfindendes Wesen. Die zweite Forderung an ihn macht die Vernunft, denn er ist ein vernünftig empfindendes Wesen, eine moralische Person und für diese ist es Pflicht, die Natur nicht über sich herrschen zu lassen, sondern sie zu beherrschen. Erst alsdann, wenn erstlich der Natur ihr Recht ist angetan worden und wenn zweitens die Vernunft das ihrige behauptet hat, ist es dem Anstand erlaubt, die dritte Forderung an den Menschen zu machen und ihm, im Ausdruck sowohl seiner Empfindungen als seiner Gesinnungen, Rücksicht gegen die Gesellschaft aufzulegen und sich als ein – zivilisiertes Wesen zu zeigen. 

   Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der leidenden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Widerstandes gegen das Leiden. 

   Der Affekt*, als Affekt*, ist etwas Gleichgültiges und die Darstellung desselben würde, für sich allein betrachtet, ohne allen ästhetischen* Wert sein; denn, um es noch einmal zu wiederholen, nichts, was bloß die sinnliche Natur angeht, ist der Darstellung würdig. Daher sind nicht nur alle bloß erschlaffenden (schmelzenden) Affekte*, sondern überhaupt auch alle höchsten Grade, von was für Affekten* es auch sei, unter der Würde tragischer Kunst. 

   Die schmelzenden Affekte*, die bloß zärtlichen Rührungen gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem die schöne Kunst nichts zu tun hat. Sie ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung und beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen. Viele unserer Romane und Trauerspiele, besonders der so genannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie bewirken bloß Ausleerungen des Tränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße; aber der Geist geht leer aus und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt. Ebenso, sagt Kant, fühlt sich mancher durch eine Predigt erbaut, wobei doch gar nichts in ihm aufgebaut worden ist. Auch die Musik der Neuern scheint es vorzüglich nur auf die Sinnlichkeit anzulegen und schmeichelt dadurch dem herrschenden Geschmack, der nur angenehm gekitzelt, nicht ergriffen, nicht kräftig gerührt, nicht erhoben sein will. Alles Schmelzende wird daher vorgezogen, und wenn noch so großer Lärm in einem Konzertsaal ist, so wird plötzlich alles Ohr, wenn eine schmelzende Passage vorgetragen wird. Ein bis ins Tierische gehender Ausdruck der Sinnlichkeit erscheint dann gewöhnlich auf allen Gesichtern, die trunkenen Augen schwimmen, der offene Mund ist ganz Begierde, ein wollüstiges Zittern ergreift den ganzen Körper, der Atem ist schnell und schwach, kurz alle Symptome der Berauschung stellen sich ein: Zum deutlichen Beweis, dass die Sinne schwelgen, der Geist aber oder das Prinzip der Freiheit im Menschen der Gewalt des sinnlichen Eindrucks zum Raub wird. Alle diese Rührungen, sage ich, sind durch einen edeln und männlichen Geschmack von der Kunst abgeschlossen, weil sie bloß allein dem Sinn gefallen, mit dem die Kunst nichts zu verkehren hat. 

   Auf der andern Seite sind aber auch alle diejenigen Grade des Affekts* ausgeschlossen, die den Sinn bloß quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu entschädigen. Sie unterdrücken die Gemütsfreiheit durch Schmerz nicht weniger, als jene durch Wollust und können deswegen bloß Verabscheuung und keine Rührung bewirken, die der Kunst würdig wäre. Die Kunst muss den Geist ergötzen und der Freiheit gefallen. Der, welcher einem Schmerz zum Raub wird, ist bloß ein gequältes Tier, kein leidender Mensch mehr; denn von dem Menschen wird schlechterdings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert, durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm, die Intelligenz, kenntlich machen kann. 

   Aus diesem Grund verstehen sich diejenigen Künstler und Dichter sehr schlecht auf ihre Kunst, welche das Pathos durch die bloße sinnliche Kraft des Affekts* und die höchst lebendigste Schilderung des Leidens zu erreichen glauben. Sie vergessen, dass das Leiden selbst nie der letzte Zweck der Darstellung und nie die unmittelbare Quelle des Vergnügens sein kann, das wir am Tragischen empfinden. Das Pathetische ist nur ästhetisch*, insofern es erhaben ist. Wirkungen aber, welche bloß auf eine sinnliche Quelle schließen lassen und bloß in der Affektion* des Gefühlvermögens gegründet sind, sind niemals erhaben, wie viel Kraft sie auch verraten mögen: Denn alles Erhabene stammt nur aus der Vernunft. 

   Eine Darstellung der bloßen Passion (sowohl der wollüstigen als der peinlichen) ohne Darstellung der übersinnlichen Widerstehungskraft heißt gemein, das Gegenteil heißt edel. Gemein und edel sind Begriffe, die überall, wo sie gebraucht werden, eine Beziehung auf den Anteil oder Nichtanteil der übersinnlichen Natur des Menschen an einer Handlung oder an einem Werk bezeichnen. Nichts ist edel, als was aus der Vernunft quillt; alles, was die Sinnlichkeit für sich hervorbringt, ist gemein. Wir sagen von einem Menschen, er handle gemein, wenn er bloß den Eingebungen seines sinnlichen Triebes folgt; er handle anständig, wenn er seinem Trieb nur mit Rücksicht auf Gesetze folgt; er handle edel, wenn er bloß der Vernunft, ohne Rücksicht auf seine Triebe, folgt. Wir nennen eine Gesichtsbildung gemein, wenn sie die Intelligenz im Menschen durch gar nichts kenntlich macht; wir nennen sie sprechend, wenn der Geist die Züge bestimmte und edel, wenn ein reiner Geist die Züge bestimmte. Wir nennen ein Werk der Architektur* gemein, wenn es uns keine andre als physische Zwecke zeigt; wir nennen es edel, wenn es, unabhängig von allen physischen Zwecken, zugleich Darstellung von Ideen ist. 

   Ein guter Geschmack also, sage ich, gestattet keine, wenn gleich noch so kraftvolle, Darstellung des Affekts*, die bloß physisches Leiden und physischen Widerstand ausdrückt, ohne zugleich die höhere Menschheit, die Gegenwart eines übersinnlichen Vermögens, sichtbar zu machen – und zwar aus dem schon entwickelten Grunde, weil nie das Leiden an sich, nur der Widerstand gegen das Leiden pathetisch und der Darstellung würdig ist. Daher sind alle absolut höchsten Grade des Affekts* dem Künstler sowohl als dem Dichter untersagt; denn alle unterdrücken die innerlich widerstehende Kraft, oder setzen vielmehr die Unterdrückung derselben schon voraus, weil kein Affekt* seinen absolut höchsten Grad erreichen kann, solange die Intelligenz im Menschen noch einigen Widerstand leistet. 

   Jetzt entsteht die Frage: Wodurch macht sich diese übersinnliche Widerstehungskraft in einem Affekt* kenntlich? Durch nichts anders als durch Beherrschung oder allgemeiner, durch Bekämpfung des Affekts*. Ich sage des Affekts*, denn auch die Sinnlichkeit kann kämpfen; aber das ist kein Kampf mit dem Affekt*, sondern mit der Ursache, die ihn hervorbringt – kein moralischer, sondern ein physischer Widerstand, den auch der Wurm äußert, wenn man ihn tritt und der Stier, wenn man ihn verwundet, ohne deswegen Pathos zu erregen. Dass der leidende Mensch seinen Gefühlen einen Ausdruck zu geben, dass er seinen Feind zu entfernen, dass er das leidende Glied in Sicherheit zu bringen sucht, hat er mit jedem Tier gemein und schon der Instinkt übernimmt dieses, ohne erst bei seinem Willen anzufragen. Das ist also noch kein Actus* seiner Humanität, das macht ihn als Intelligenz noch nicht kenntlich. Die Sinnlichkeit wird zwar jederzeit ihren Feind, aber niemals sich selbst bekämpfen. 

   Der Kampf mit dem Affekt* hingegen ist ein Kampf mit der Sinnlichkeit und setzt also etwas voraus, was von der Sinnlichkeit unterschieden ist. Gegen das Objekt, das ihn leiden macht, kann sich der Mensch mit Hilfe seines Verstandes und seiner Muskelkräfte wehren; gegen das Leiden selbst hat er keine andern Waffen, als Ideen der Vernunft. 

   Diese müssen also in der Darstellung vorkommen, oder durch sie erweckt werden, wo Pathos stattfinden soll. Nun sind aber Ideen im eigentlichen Sinn und positiv nicht darzustellen, weil ihnen nichts in der Anschauung entsprechen kann. Aber negativ und indirekt sind sie allerdings darzustellen, wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Übersinnlichen. 

   Wie gelangt nun die Kunst dazu, etwas vorzustellen, was über der Natur ist, ohne sich übernatürlicher Mittel zu bedienen? Was für eine Erscheinung muss das sein, die durch natürliche Kräfte vollbracht wird (denn sonst wäre sie keine Erscheinung) und dennoch ohne Widerspruch aus physischen Ursachen nicht kann hergeleitet werden? Dies ist die Aufgabe; und wie löst sie nun der Künstler? 

   Wir müssen uns erinnern, dass die Erscheinungen, welche im Zustand des Affekts* an einem Menschen können wahrgenommen werden, von zweierlei Gattung sind. Entweder es sind solche, die ihm bloß als Tier angehören und als solche bloß dem Naturgesetz folgen, ohne dass sein Wille sie beherrschen oder überhaupt die selbständige Kraft in ihm unmittelbaren Einfluss darauf haben könnte. Der Instinkt erzeugt sie unmittelbar und blind gehorchen sie seinen Gesetzen. Dahin gehören z.B. die Werkzeuge des Blutumlaufs, des Atemholens und die ganze Oberfläche der Haut; aber auch diejenigen Werkzeuge, die dem Willen unterworfen sind, warten nicht immer die Entscheidung des Willens ab, sondern der Instinkt setzt sie oft unmittelbar in Bewegung, da besonders, wo dem physischen Zustand Schmerz oder Gefahr droht. So steht zwar unser Arm unter der Herrschaft des Willens, aber wenn wir unwissend etwas Heißes angreifen, so ist das Zurückziehen der Hand gewiss keine Willenshandlung, sondern der Instinkt allein vollbringt sie. Ja, noch mehr. Die Sprache ist gewiss etwas, was unter der Herrschaft des Willens steht, und doch kann auch der Instinkt sogar über dieses Werkzeug und Werk des Verstandes nach seinem Gutdünken disponieren, ohne erst bei dem Willen anzufragen, sobald ein großer Schmerz oder nur ein starker Affekt* uns überrascht. Man lasse den gefasstesten Stoiker auf einmal etwas höchst Wunderbares oder unerwartet Schreckliches erblicken, man lasse ihn dabei stehen, wenn jemand ausglitscht und in einen Abgrund fallen will, so wird ein lauter Ausruf und zwar kein bloß unartikulierter Ton, sondern ein ganz bestimmtes Wort, ihm unwillkürlich entwischen und die Natur in ihm wird früher als der Wille gehandelt haben. Dies dient also zum Beweis, dass es Erscheinungen an dem Menschen gibt, die nicht seiner Person als Intelligenz, sondern bloß seinem Instinkt als einer Naturkraft können zugeschrieben werden. 

   Nun gibt es aber auch zweitens Erscheinungen an ihm, die unter dem Einfluss und unter der Herrschaft des Willens stehen oder die man wenigstens als solche betrachten kann, die der Wille hätte verhindern können; welche also die Person und nicht der Instinkt zu verantworten hat. Dem Instinkt kommt es zu, das Interesse der Sinnlichkeit mit blindem Eifer zu besorgen; aber der Person kommt es zu, den Instinkt durch Rücksicht auf Gesetze zu beschränken. Der Instinkt achtet an sich selbst auf kein Gesetz; aber die Person hat dafür zu sorgen, dass den Vorschriften der Vernunft durch keine Handlung des Instinkts Eintrag geschehe. So viel ist also gewiss, dass der Instinkt allein nicht alle Erscheinungen am Menschen im Affekt* unbedingter Weise zu bestimmen hat, sondern dass ihm durch den Willen des Menschen eine Grenze gesetzt werden kann. Bestimmt der Instinkt allein alle Erscheinungen am Menschen, so ist nichts mehr vorhanden, was an die Person erinnern könnte und es ist bloß ein Naturwesen, also ein Tier, was wir vor uns haben; denn Tier heißt jedes Naturwesen unter der Herrschaft des Instinkts. Soll also die Person dargestellt werden, so müssen einige Erscheinungen am Menschen vorkommen, die entweder gegen den Instinkt oder doch nicht durch den Instinkt bestimmt worden sind. Schon dass sie nicht durch den Instinkt bestimmt wurden, ist hinreichend, uns auf eine höhere Quelle zu leiten, sobald wir nur einsehen, dass der Instinkt sie schlechterdings hätte anders bestimmen müssen, wenn seine Gewalt nicht wäre gebrochen worden. 

   Jetzt sind wir imstande, die Art und Weise anzugeben, wie die übersinnliche, selbständige Kraft im Menschen, sein moralisches Selbst, im Affekt* zur Darstellung gebracht werden kann. – Dadurch nämlich, dass alle bloß der Natur gehorchenden Teile, über welche der Wille entweder gar niemals oder wenigstens unter gewissen Umständen nicht disponieren kann, die Gegenwart des Leidens verraten – diejenigen Teile aber, welche der blinden Gewalt des Instinkts entzogen sind und dem Naturgesetz nicht notwendig gehorchen, keine oder nur eine geringe Spur dieses Leidens zeigen, also in einem gewissen Grad frei erscheinen. An dieser Disharmonie nun zwischen denjenigen Zügen, die der animalischen Natur nach dem Gesetz der Notwendigkeit eingeprägt werden und zwischen denen, die der selbsttätige Geist bestimmt, erkennt man die Gegenwart eines übersinnlichen Prinzips im Menschen, welches den Wirkungen der Natur eine Grenze setzen kann und sich also eben dadurch als von derselben unterschieden kenntlich macht. Der bloß tierische Teil des Menschen folgt dem Naturgesetz und darf daher von der Gewalt des Affekts* unterdrückt erscheinen. An diesem Teil also offenbart sich die ganze Stärke des Leidens und dient gleichsam zum Maß, nach welchem der Widerstand geschätzt werden kann; denn man kann die Stärke des Widerstandes oder die moralische Macht in dem Menschen, nur nach der Stärke des Angriffs beurteilen. Je entscheidender und gewaltsamer nun der Affekt* in dem Gebiet der Tierheit sich äußert, ohne doch im Gebiet der Menschheit dieselbe Macht behaupten zu können, desto mehr wird diese letztere kenntlich, desto glorreicher offenbart sich die moralische Selbständigkeit des Menschen, desto pathetischer ist die Darstellung und desto erhabener das Pathos2).

   In den Bildsäulen der Alten findet man diesen ästhetischen* Grundsatz anschaulich gemacht; aber es ist schwer, den Eindruck, den der sinnlich lebendige Anblick macht, unter Begriffe zu bringen und durch Worte anzugeben. Die Gruppe des Laokoon und seiner Kinder ist ungefähr ein Maß für das, was die bildende Kunst der Alten im Pathetischen zu leisten vermochte. „Laokoon“, sagt uns Winckelmann in seiner Gesch. der Kunst (S. 699 der Wiener Quartausgabe), „ist eine Natur im höchsten Schmerz, nach dem Bild eines Mannes gemacht, der die bewusste Stärke des Geistes gegen denselben zu sammeln sucht; und indem sein Leiden die Muskeln aufschwellt und die Nerven anzieht, tritt der mit Stärke bewaffnete Geist in der aufgetriebenen Stirn hervor und die Brust erhebt sich durch den beklemmten Odem und durch Zurückhaltung des Ausdrucks der Empfindung, um den Schmerz in sich zu fassen und zu verschließen. Das bange Seufzen, welches er in sich und den Odem an sich zieht, erschöpft den Unterleib und macht die Seiten hohl, welches uns gleichsam von der Bewegung seiner Eingeweide urteilen lässt. Sein eigenes Leiden aber scheint ihn weniger zu beängstigen als die Pein seiner Kinder, die ihr Angesicht zum Vater wenden und um Hilfe schreien; denn das väterliche Herz offenbart sich in den wehmütigen Augen, und das Mitleiden scheint in einem trüben Duft auf denselben zu schwimmen. Sein Gesicht ist klagend, aber nicht schreiend, seine Augen sind nach der höhern Hilfe gewandt. Der Mund ist voll von Wehmut und die gesenkte Unterlippe schwer von derselben; in der überwärts gezogenen Oberlippe aber ist dieselbe mit Schmerz vermischt, welcher mit einer Regung von Unmut, wie über ein unverdientes unwürdiges Leiden, in die Nase hinauf tritt, dieselbe schwellen macht und sich in den erweiterten und aufwärts gezogenen Nüssen offenbart. Unter der Stirn ist der Streit zwischen Schmerz und Widerstand, wie in einem Punkt vereinigt, mit großer Wahrheit gebildet; denn indem der Schmerz die Augenbraunen in die Höhe treibt, so drückt das Sträuben gegen denselben das obere Augenfleisch niederwärts und gegen das obere Augenlied zu, so dass dasselbe durch das übergetretene Fleisch beinahe ganz bedeckt wird. Die Natur, welche der Künstler nicht verschönern konnte, hat er ausgewickelter, angestrengter und mächtiger zu zeigen gesucht; da, wohin der größte Schmerz gelegt ist, zeigt sich auch die größte Schönheit. Die linke Seite, in welche die Schlange mit dem wütenden Biss ihr Gift ausgießt, ist diejenige, welche durch die nächste Empfindung zum Herzen am heftigsten zu leiden scheint. Seine Beine wollen sich erheben, um seinem Übel zu entrinnen; kein Teil ist in Ruhe, ja die Meißelstriche selbst helfen zur Bedeutung einer erstarrten Haut.“ 

   Wie wahr und fein ist in dieser Beschreibung der Kampf der Intelligenz mit dem Leiden der sinnlichen Natur entwickelt und wie treffend die Erscheinungen angegeben, in denen sich Tierheit und Menschheit, Naturzwang und Vernunftfreiheit offenbaren! Virgil schilderte bekanntlich denselben Auftritt in seiner Äneis; aber es lag nicht in dem Plan des epischen Dichters, sich bei dem Gemütszustand des Laokoon, wie der Bildhauer tun musste, zu verweilen. Bei dem Virgil ist die ganze Erzählung bloß Nebenwerk und die Absicht, wozu sie ihm dienen soll, wird hinlänglich durch die bloße Darstellung des Physischen erreicht, ohne dass er nötig gehabt hätte, uns in die Seele des Leidenden tiefe Blicke tun zu lassen, da er uns nicht sowohl zum Mitleid bewegen als mit Schrecken durchdringen will. Die Pflicht des Dichters war also in dieser Hinsicht bloß negativ, nämlich, die Darstellung der leidenden Natur nicht so weit zu treiben, dass aller Ausdruck der Menschheit oder des moralischen Widerstandes dabei verloren ging, weil sonst Unwille und Abscheu unausbleiblich erfolgen müssten. Er hielt sich daher lieber an Darstellung der Ursache des Leidens und fand für gut, sich umständlicher über die Furchtbarkeit der beiden Schlangen und über die Wut, mit der sie ihr Schlachtopfer anfallen, als über die Empfindungen desselben zu verbreiten. An diesen eilt er nur schnell vorüber, weil ihm daran liegen musste, die Vorstellung eines göttlichen Strafgerichts und den Eindruck des Schreckens ungeschwächt zu erhalten. Hätte er uns hingegen von Laokoons Person so viel wissen lassen, als der Bildhauer, so würde nicht mehr die strafende Gottheit, sondern der leidende Mensch der Held in der Handlung gewesen sein und die Episode ihre Zweckmäßigkeit für das Ganze verloren haben.

   Man kennt die Virgilische Erzählung schon aus Lessings vortrefflichem Kommentar. Aber die Absicht, wozu Lessing sie gebrauchte, war bloß, die Grenzen der poetischen und malerischen Darstellung an diesem Beispiel anschaulich zu machen, nicht den Begriff des Pathetischen daraus zu entwickeln. Zu dem letztern Zweck scheint sie mir aber nicht weniger brauchbar und man erlaube mir, sie in dieser Hinsicht noch einmal zu durchlaufen. 

Ecce autem gemini Tenedo tranquilla per alta
(horresco referens) immensis orbibus angues
incumbunt pelago, pariterque ad littora tendunt.
Pectora quorum inter fluctus arrecta, jubaeque
sanguineae exsuperant undas, pars caetera pontum
pone legit, sinuatque immensa volumine terga.
Fit sonitus spumante salo, jamque arva tenebant,
ardenteis oculos suffecti saguine et igni,
sibila lambebant linguis vibrantibus ora. 

   Die erste von den drei oben angeführten Bedingungen des Erhabenen, der Macht, ist hier gegeben; eine mächtige Naturkraft nämlich, die zur Zerstörung gewaffnet ist und jedes Widerstandes spottet. Dass aber dieses Mächtige zugleich furchtbar und das Furchtbare erhaben werde, beruht auf zwei verschiedenen Operationen des Gemüts, d.i. auf zwei Vorstellungen, die wir selbsttätig in uns erzeugen. Indem wir erstlich diese unwiderstehliche Naturmacht mit dem schwachen Widerstehungsvermögen des physischen Menschen zusammenhalten, erkennen wir sie als furchtbar und indem wir sie zweitens aus unsern Willen beziehen und uns die absolute Unabhängigkeit desselben von jedem Natureinfluss ins Bewusstsein rufen, wird sie uns zu einem erhabenen Objekt. Diese beiden Beziehungen aber stellen wir an; der Dichter gab uns weiter nichts als einen mit starker Macht bewaffneten und nach Äußerung derselben strebenden Gegenstand. Wenn wir davor zittern, so geschieht es bloß, weil wir uns selbst oder ein uns ähnliches Geschöpf im Kampf mit demselben denken. Wenn wir uns bei diesem Zittern erhaben fühlen, so ist es, weil wir uns bewusst werden, dass wir, auch selbst als ein Opfer dieser Macht, für unser freies Selbst, für die Autonomie unserer Willensbestimmungen nichts zu fürchten haben würden. Kurz, die Darstellung ist bis hierher bloß kontemplativ erhaben. 

Diffugimus visu exsangues, illi agmine certo
Laocoonta petunt, 

   Jetzt wird das Mächtige zugleich als furchtbar gegeben und das kontemplativ Erhabene geht ins Pathetische über. Wir sehen es wirklich mit der Ohnmacht des Menschen in Kampf treten. Laokoon oder wir, das wirkt bloß dem Grad nach verschieden. Der sympathetische Trieb schreckt den Erhaltungstrieb auf, die Ungeheuer schießen los auf – uns, und alles Entrinnen ist vergebens. 

   Jetzt hängt es nicht mehr von uns ab, ob wir diese Macht mit der unsrigen messen und auf unsre Existenz beziehen wollen. Dies geschieht ohne unser Zutun in dem Objekt selbst. Unsre Furcht hat also nicht, wie im vorhergehenden Moment, einen bloß subjektiven Grund in unserm Gemüt, sondern einen objektiven Grund in dem Gegenstand. Denn erkennen wir gleich das Ganze für eine bloße Fiktion der Einbildungskraft, so unterscheiden wir doch auch in dieser Fiktion eine Vorstellung, die uns von außen mitgeteilt wird, von einer andern, die wir selbsttätig in uns hervorbringen. 

   Das Gemüt verliert also einen Teil seiner Freiheit, weil es von außen empfängt, was es vorher durch seine Selbsttätigkeit erzeugte. Die Vorstellung der Gefahr erhält einen Anschein objektiver Realität und es wird Ernst mit dem Affekte*

   Wären wir nun nichts als Sinnenwesen, die keinem andern als dem Erhaltungstriebe folgen, so würden wir hier still stehen und im Zustand des bloßen Leidens verharren. Aber etwas ist in uns, was an den Affektionen* der sinnlichen Natur keinen Teil nimmt und dessen Tätigkeit sich nach keinen physischen Bedingungen richtet. Je nachdem nun dieses selbsttätige Prinzip (die moralische Anlage) in einem Gemüt sich entwickelt hat, wird der leidenden Natur mehr oder weniger Raum gelassen sein und mehr oder weniger Selbsttätigkeit im Affekt* übrig bleiben. 

   In moralischen Gemütern geht das Furchtbare (der Einbildungskraft) schnell und leicht ins Erhabene über. So wie die Imagination ihre Freiheit verliert, so macht die Vernunft die ihrige geltend; und das Gemüt erweitert sich nur desto mehr nach innen, indem es nach außen Grenzen findet. Herausgeschlagen aus allen Verschanzungen, die dem Sinnenwesen einen physischen Schutz verschaffen können, werfen wir uns in die unbezwingliche Burg unserer moralischen Freiheit und gewinnen eben dadurch eine absolute und unendliche Sicherheit, indem wir eine bloß komparative und prekäre Schutzwehr im Feld der Erscheinung verloren geben. Aber eben darum, weil es zu diesem physischen Bedrängnis gekommen sein muss, ehe wir bei unsrer moralischen Natur Hilfe suchen, so können wir dieses hohe Freiheitsgefühl nicht anders als mit Leiden erkaufen. Die gemeine Seele bleibt bloß bei diesem Leiden stehen und fühlt im Erhabenen des Pathos nie mehr als das Furchtbare; ein selbständiges Gemüt hingegen nimmt gerade von diesem Leiden den Übergang zum Gefühl seiner herrlichsten Kraftwirkung und weiß aus jedem Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen. 

Laocoonta petunt, ac primum parva duorum
corpora gnatorum serpens amplexus uterqae
implicat, ac miseros morsu depascitur artus. 

   Es tut eine große Wirkung, dass der moralische Mensch (der Vater) eher als der physische angefallen wird. Alle Affekte* sind ästhetischer* aus der zweiten Hand und keine Sympathie ist stärker, als die wir mit der Sympathie empfinden. 

Post ipsum auxilio subeuntem ac tela ferentem
corripiunt. 

   Jetzt war der Augenblick da, den Helden als moralische Person bei uns in Achtung zu setzen und der Dichter ergriff diesen Augenblick. Wir kennen aus seiner Beschreibung die ganze Macht und Wut der feindlichen Ungeheuer und wissen, wie vergeblich aller Widerstand ist. Wäre nun Laokoon bloß ein gemeiner Mensch, so würde er seines Vorteils wahrnehmen und wie die übrigen Trojaner in einer schnellen Flucht seine Rettung suchen. Aber er hat ein Herz in seinem Busen und die Gefahr seiner Kinder hält ihn zu seinem eigenen Verderben zurück. Schon dieser einzige Zug macht ihn unsers ganzen Mitleidens würdig. In was für einem Moment auch die Schlangen ihn ergriffen haben möchten, es würde uns immer bewegt und erschüttert haben. Dass es aber gerade in dem Moment geschieht, wo er als Vater uns achtungswürdig wird, dass sein Untergang gleichsam als unmittelbare Folge der erfüllten Vaterpflicht, der zärtlichen Bekümmernis für seine Kinder vorgestellt wird – dies entflammt unsre Teilnahme aufs höchste. Er ist es jetzt gleichsam selbst, der sich aus freier Wahl dem Verderben hingibt und sein Tod wird eine Willenshandlung. 


   Bei allem Pathos muss also der Sinn durch Leiden, der Geist durch Freiheit interessiert sein. Fehlt es einer pathetischen Darstellung an einem Ausdruck der leidenden Natur, so ist sie ohne ästhetische* Kraft und unser Herz bleibt kalt. Fehlt es ihr an einem Ausdruck der ethischen Anlage, so kann sie bei aller sinnlichen Kraft nie pathetisch sein und wird unausbleiblich unsre Empfindung empören. Ans aller Freiheit des Gemüts muss immer der leidende Mensch, aus allen Leiden der Menschheit muss immer der selbständige oder der Selbständigkeit fähige Geist durchscheinen. 

   Auf zweierlei Weise aber kann sich die Selbständigkeit des Geistes im Zustand des Leidens offenbaren. Entweder negativ: Wenn der ethische Mensch von dem physischen das Gesetz nicht empfängt und dem Zustand keine Kausalität für die Gesinnung gestattet wird; oder positiv: Wenn der ethische Mensch dem physischen das Gesetz gibt und die Gesinnung für den Zustand Kausalität erhält. Aus dem ersten entspringt das Erhabene der Fassung, aus dem zweiten das Erhabene der Handlung. 

   Ein Erhabenes der Fassung ist jeder vom Schicksal unabhängige Charakter. „Ein tapfrer Geist, im Kampf mit der Widerwärtigkeit“, sagt Seneca, „ist ein anziehendes Schauspiel, selbst für die Götter.“ Einen solchen Anblick gibt uns der römische Senat nach dem Unglück bei Cannä*. Selbst Miltons Luzifer, wenn er sich in der Hölle, seinem künftigen Wohnort, zum ersten Mal umsieht, durchdringt uns, dieser Seelenstärke wegen, mit einem Gefühl von Bewunderung. „Schrecken, ich grüße euch“, ruft er aus, „und dich, unterirdische Welt, und dich, tiefste Hölle! Nimm auf deinen neuen Gast. Er kommt zu dir mit einem Gemüt, das weder Zeit noch Ort umgestalten soll. In seinem Gemüt wohnt er. Das wird ihm in der Hölle selbst einen Himmel erschaffen. Hier endlich sind wir frei, usf.“ Die Antwort der Medea im Trauerspiel gehört in die nämliche Klasse. 

   Das Erhabene der Fassung lässt sich anschauen, denn es beruht auf der Koexistenz; das Erhabene der Handlung hingegen lässt sich bloß denken, denn es beruht auf der Sukzession und der Verstand ist nötig, um das Leiden von einem freien Entschluss abzuleiten. Daher ist nur das Erste für den bildenden Künstler, weil dieser nur das Koexistente glücklich darstellen kann; der Dichter aber kann sich über beides verbreiten. Selbst wenn der bildende Künstler eine erhabene Handlung darzustellen hat, muss er sie in eine erhabene Fassung verwandeln. 

   Zum Erhabenen der Handlung wird erfordert, dass das Leiden eines Menschen auf seine moralische Beschaffenheit nicht nur keinen Einfluss habe, sondern vielmehr umgekehrt das Werk seines moralischen Charakters sei. Dies kann auf zweierlei Weise sein. Entweder mittelbar und nach dem Gesetz der Freiheit, wenn er aus Achtung für irgendeine Pflicht das Leiden erwählt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Motiv und sein Leiden ist eine Willenshandlung. Oder unmittelbar und nach dem Gesetz der Notwendigkeit, wenn er eine übertretene Pflicht moralisch büßt. Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Fall als Macht und sein Leiden ist bloß eine Wirkung. Ein Beispiel des Ersten gibt uns Regulus, wenn er, um Wort zu halten, sich der Rachbegier der Karthaginienser ausliefert; zu einem Beispiel des Zweiten würde er uns dienen, wenn er sein Wort gebrochen und das Bewusstsein dieser Schuld ihn elend gemacht hätte. In beiden Fällen hat das Leiden einen moralischen Grund, nur mit dem Unterschied, dass er uns in dem ersten Fall seinen moralischen Charakter, in dem andern bloß seine Bestimmung dazu zeigt. In dem ersten Fall erscheint er als eine moralisch große Person, in dem zweiten bloß als ein ästhetisch* großer Gegenstand. 

   Dieser letzte Unterschied ist wichtig für die tragische Kunst und verdient daher eine genauere Erörterung. 

   Ein erhabenes Objekt, bloß in der ästhetischen* Schätzung, ist schon derjenige Mensch, der uns die Würde der menschlichen Bestimmung durch seinen Zustand vorstellig macht, gesetzt auch, dass wir diese Bestimmung in seiner Person nicht realisiert finden sollten. Erhaben in der moralischen Schätzung wird er nur alsdann, wenn er sich zugleich als Person jener Bestimmung gemäß verhält, wenn unsre Achtung nicht bloß seinem Vermögen, sondern dem Gebrauch dieses Vermögens gilt, wenn nicht bloß seiner Anlage, sondern seinem wirklichen Betragen Würde zukommt. Es ist ganz etwas anders, ob wir bei unserm Urteil auf das moralische Vermögen überhaupt und auf die Möglichkeit einer absoluten Freiheit des Willens oder ob wir auf den Gebrauch dieses Vermögens und auf die Wirklichkeit dieser absoluten Freiheit des Willens unser Augenmerk richten. 

   Es ist etwas ganz anders, sage ich und diese Verschiedenheit liegt nicht etwa nur in den beurteilten Gegenständen, sondern sie liegt in der verschiedenen Beurteilungsweise. Der nämliche Gegenstand kann uns in der moralischen Schätzung missfallen und in der ästhetischen* sehr anziehend für uns sein. Aber wenn er uns auch in beiden Instanzen der Beurteilung Genüge leistete, so tut er diese Wirkung bei beiden auf eine ganz verschiedene Weise. Er wird dadurch, dass er ästhetisch* brauchbar ist, nicht moralisch befriedigend und dadurch, dass er moralisch befriedigt, nicht ästhetisch* brauchbar. 

   Ich denke mir z.B. die Selbstaufopferung des Leonidas bei Thermopylä. Moralisch beurteilt, ist mir diese Handlung Darstellung des bei allem Widerspruch der Instinkte erfüllten Sittengesetzes; ästhetisch* beurteilt, ist sie mir Darstellung des von allem Zwang der Instinkte unabhängigen, sittlichen Vermögens. Meinen moralischen Sinn (die Vernunft) befriedigt diese Handlung; meinen ästhetischen* Sinn (die Einbildungskraft) entzückt sie. 

   Von dieser Verschiedenheit meiner Empfindungen bei dem nämlichen Gegenstand gebe ich mir folgenden Grund an.

   Wie sich unser Wesen in zwei Prinzipien oder Naturen teilt, so teilen sich, diesen gemäß, auch unsre Gefühle in zweierlei ganz verschiedene Geschlechter. Als Vernunftwesen empfinden wir Beifall oder Missbilligung; als Sinnenwesen empfinden wir Lust oder Unlust. Beide Gefühle, des Beifalls und der Lust, gründen sich auf eine Befriedigung: Jenes auf Befriedigung eines Anspruchs, denn die Vernunft fordert bloß, aber bedarf nicht; dieses auf Befriedigung eines Anliegens, denn der Sinn bedarf bloß und kann nicht fordern. Beide, die Forderungen der Vernunft und die Bedürfnisse des Sinnes, verhalten sich zueinander, wie Notwendigkeit zu Notdurft; sie sind also beide unter dem Begriff von Necessität enthalten; bloß mit dem Unterschied, dass die Necessität der Vernunft ohne Bedingung, die Necessität der Sinne bloß unter Bedingungen statt hat. Bei beiden aber ist die Befriedigung zufällig. Alles Gefühl, der Lust sowohl als des Beifalls, gründet sich also zuletzt auf Übereinstimmung des Zufälligen mit dem Notwendigen. Ist das Notwendige ein Imperativ, so wird Beifall, ist es eine Notdurft, so wird Lust die Empfindung sein; beide in desto stärkerem Grad, je zufälliger die Befriedigung ist. 

   Nun liegt bei aller moralischen Beurteilung eine Forderung der Vernunft zugrunde, dass moralisch gehandelt werde und es ist eine unbedingte Necessität vorhanden, dass wir wollen, was recht ist. Weil aber der Wille frei ist, so ist es (physisch) zufällig, ob wir es wirklich tun. Thun wir es nun wirklich, so erhält diese Übereinstimmung des Zufalls im Gebrauch der Freiheit mit dem Imperativ der Vernunft Billigung oder Beifall und zwar in desto höherem Grade, als der Widerstreit der Neigungen diesen Gebrauch der Freiheit zufälliger und zweifelhafter machte. 

   Bei der ästhetischen* Schätzung hingegen wird der Gegenstand auf das Bedürfnis der Einbildungskraft bezogen, welche nicht gebieten, bloß verlangen kann, dass das Zufällige mit ihrem Interesse übereinstimmen möge. Das Interesse der Einbildungskraft aber ist: Sich frei von Gesetzen im Spiel zu erhalten. Diesem Hang zur Ungebundenheit ist die sittliche Verbindlichkeit des Willens, durch welche ihm sein Objekt auf das strengste bestimmt wird, nichts weniger als günstig; und da die sittliche Verbindlichkeit des Willens der Gegenstand des moralischen Urteils ist, so sieht man leicht, dass bei dieser Art zu urteilen die Einbildungskraft ihre Rechnung nicht finden könne. Aber eine sittliche Verbindlichkeit des Willens lässt sich nur unter Voraussetzung einer absoluten Independenz desselben vom Zwang der Naturtriebe denken; die Möglichkeit des Sittlichen postuliert also Freiheit und stimmt folglich mit dem Interesse der Phantasie hierin auf das vollkommenste zusammen. Weil aber die Phantasie durch ihr Bedürfnis nicht so vorschreiben kann, wie die Vernunft durch ihren Imperativ dem Willen der Individuen vorschreibt, so ist das Vermögen der Freiheit, auf die Phantasie bezogen, etwas Zufälliges und muss daher als Übereinstimmung des Zufalls mit dem (bedingungsweise) Notwendigen Lust erwecken. Beurteilen wir also jene Tat des Leonidas moralisch, so betrachten wir sie aus einem Gesichtspunkt, wo uns weniger ihre Zufälligkeit als ihre Notwendigkeit in die Augen fällt. Beurteilen wir sie hingegen ästhetisch*, so betrachten wir sie aus einem Standpunkt, wo sich uns weniger ihre Notwendigkeit als ihre Zufälligkeit darstellt. Es ist Pflicht für jeden Willen, so zu handeln, sobald er ein freier Wille ist; dass es aber überhaupt eine Freiheit des Willens gibt, welche es möglich macht, so zu handeln, dies ist eine Gunst der Natur in Rücksicht auf dasjenige Vermögen, welchem Freiheit Bedürfnis ist. Beurteilt also der moralische Sinn – die Vernunft – eine tugendhafte Handlung, so ist Billigung das Höchste, was erfolgen kann, weil die Vernunft nie mehr und selten nur so viel finden kann, als sie fordert. Beurteilt hingegen der ästhetische* Sinn, die Einbildungskraft, die nämliche Handlung, so erfolgt eine positive Lust, weil die Einbildungskraft niemals Einstimmigkeit mit ihrem Bedürfnisse fordern kann und sich also von der wirklichen Befriedigung desselben, als von einem glücklichen Zufall, überrascht finden muss. Dass Leonidas die heldenmütige Entschließung wirklich fasste, billigen wir; dass er sie fassen konnte, darüber frohlocken wir und sind entzückt. 

   Der Unterschied zwischen beiden Arten der Beurteilung fällt noch deutlicher in die Augen, wenn man eine Handlung zugrunde legt, über welche das moralische und das ästhetische* Urteil verschieden ausfallen. Man nehme die Selbstverbrennung des Peregrinus Proteus zu Olympia. Moralisch beurteilt, kann ich dieser Handlung nicht Beifall geben, insofern ich unreine Triebfedern dabei wirksam finde, um derentwillen die Pflicht der Selbsterhaltung hintangesetzt wird. Ästhetisch* beurteilt, gefällt mir aber diese Handlung und zwar deswegen gefällt sie mir, weil sie von einem Vermögen des Willens zeugt, selbst dem mächtigsten aller Instinkte, dem Trieb der Selbsterhaltung, zu widerstehen. Ob es eine rein moralische Gesinnung oder ob es bloß eine mächtigere, sinnliche Reizung war, was den Selbsterhaltungstrieb bei dem Schwärmer Peregrin unterdrückte, darauf achte ich bei der ästhetischen* Schätzung nicht, wo ich das Individuum verlasse, von dem Verhältnis seines Willens zu dem Willensgesetz abstrahiere und mir den menschlichen Willen überhaupt, als Vermögen der Gattung, im Verhältnis zu der ganzen Naturgewalt denke. Bei der moralischen Schätzung, hat man gesehen, wurde die Selbsterhaltung als eine Pflicht vorgestellt, daher beleidigte ihre Verletzung; bei der ästhetischen* Schätzung hingegen wurde sie als ein Interesse angesehen, daher gefiel ihre Hintansetzung. Bei der letztern Art des Beurteilens wird also die Operation gerade umgekehrt, die wir bei der ersteren verrichten. Dort stellen wir das sinnlich beschränkte Individuum und den pathologisch-affikierbaren Willen dem absoluten Willensgesetz und der unendlichen Geisterpflicht, hier hingegen stellen wir das absolute Willensvermögen und die unendliche Geistergewalt dem Zwang der Natur und den Schranken der Sinnlichkeit gegenüber. Daher lässt uns das ästhetische* Urteil frei und erhebt und begeistert uns, weil wir uns schon durch das bloße Vermögen, absolut zu wollen, schon durch die bloße Anlage zur Moralität gegen die Sinnlichkeit in augenscheinlichem Vorteil befinden, weil schon durch die bloße Möglichkeit, uns vom Zwang der Natur loszusagen, unserm Freiheitsbedürfnis geschmeichelt wird. Daher beschränkt uns das moralische Urteil und demütigt uns, weil wir uns bei jedem besondern Willensakt gegen das absolute Willensgesetz mehr oder weniger im Nachtheil befinden und durch die Einschränkung des Willens auf eine einzige Bestimmungsweise, welche die Pflicht schlechterdings fordert, dem Freiheitstrieb der Phantasie widersprochen wird. Dort schwingen wir uns von dem Wirklichen zu dem Möglichen und von dem Individuum zur Gattung empor; hier hingegen steigen wir vom Möglichen zum Wirklichen herunter und schließen die Gattung in die Schranken des Individuums ein; kein Wunder also, wenn wir uns bei ästhetischen* Urteilen erweitert, bei moralischen hingegen eingeengt und gebunden fühlen3).

   Aus diesem allen ergibt sich denn, dass die moralische und die ästhetische* Beurteilung, weit entfernt, einander zu unterstützen, einander vielmehr im Weg stehen, weil sie dem Gemüt zwei ganz entgegen gesetzte Richtungen geben; denn die Gesetzmäßigkeit, welche die Vernunft als moralische Richterin fordert, besteht nicht mit der Ungebundenheit, welche die Einbildungskraft als ästhetische* Richterin verlangt. Daher wird ein Objekt zu einem ästhetischen* Gebrauch gerade umso viel weniger taugen, als es sich zu einem moralischen qualifiziert; und wenn der Dichter es dennoch erwählen müsste, so wird er wohl tun, es so zu behandeln, dass nicht sowohl unsre Vernunft auf die Regel des Willens, als vielmehr unsre Phantasie auf das Vermögen des Willens hingewiesen werde. Um seiner selbst willen muss der Dichter diesen Weg einschlagen, denn mit unserer Freiheit ist sein Reich zu Ende. Nur so lange wir außer uns anschauen, sind wir sein; er hat uns verloren, sobald wir in unsern eigenen Busen greifen. Dies erfolgt aber unausbleiblich, sobald ein Gegenstand nicht mehr als Erscheinung von uns betrachtet wird, sondern als Gesetz über uns richtet. 

   Selbst von den Äußerungen der erhabensten Tugend kann der Dichter nichts für seine Absichten brauchen, als was an denselben der Kraft gehört. Um die Richtung der Kraft bekümmert er sich nichts. Der Dichter, auch wenn er die vollkommensten sittlichen Muster vor unsre Augen stellt, hat keinen andern Zweck und darf keinen andern haben, als uns durch Betrachtung derselben zu ergötzen. Nun kann uns aber nichts ergötzen, als was unser Subjekt verbessert und nichts kann uns geistig ergötzen, als was unser geistiges Vermögen erhöht. Wie kann aber die Pflichtmäßigkeit eines andern unser Subjekt verbessern und unsere geistige Kraft vermehren? Dass er seine Pflicht wirklich erfüllt, beruht auf einem zufälligen Gebrauch, den er von seiner Freiheit macht und der eben darum für uns nichts beweisen kann. Es ist bloß das Vermögen zu einer ähnlichen Pflichtmäßigkeit, was wir mit ihm teilen und indem wir in seinem Vermögen auch das unsrige wahrnehmen, fühlen wir unsere geistige Kraft erhöht. Es ist also bloß die vorgestellte Möglichkeit eines absolut freien Wollens, wodurch die wirkliche Ausübung desselben unserm ästhetischen* Sinn gefällt. 

   Noch mehr wird man sich davon überzeugen, wenn man nachdenkt, wie wenig die poetische Kraft des Eindrucks, den sittliche Charaktere oder Handlungen auf uns machen, von ihrer historischen Realität abhängt. Unser Wohlgefallen an idealischen Charakteren verliert nichts durch die Erinnerung, dass sie poetische Fiktionen sind, denn es ist die poetische, nicht die historische Wahrheit, auf welche alle ästhetische* Wirkung sich gründet. Die poetische Wahrheit besteht aber nicht darin, dass etwas wirklich geschehen ist, sondern darin, dass es geschehen konnte, also in der innern Möglichkeit der Sache. Die ästhetische* Kraft muss also schon in der vorgestellten Möglichkeit liegen. 

   Selbst an wirklichen Begebenheiten historischer Personen ist nicht die Existenz, sondern das durch die Existenz kund gewordene Vermögen das Poetische. Der Umstand, dass diese Personen wirklich lebten und dass diese Begebenheiten wirklich erfolgten, kann zwar sehr oft unser Vergnügen vermehren, aber mit einem fremdartigen Zusatz, der dem poetischen Eindruck vielmehr nachteilig als beförderlich ist. Man hat lange geglaubt, der Dichtkunst unsres Vaterlandes einen Dienst zu erweisen, wenn man den Dichtern Nationalgegenstände zur Bearbeitung empfahl. Dadurch, hieß es, wurde die griechische Poesie so bemächtigend für das Herz, weil sie einheimische Szenen malte und einheimische Taten verewigte. Es ist nicht zu leugnen, dass die Poesie der Alten, dieses Umstandes halber, Wirkungen leistete, deren die neuere Poesie sich nicht rühmen kann, – aber gehörten diese Wirkungen der Kunst und dem Dichter? Wehe dem griechischen Kunstgenie, wenn es vor dem Genius der Neuern nichts weiter als diesen zufälligen Vorteil voraus hätte und wehe dem griechischen Kunstgeschmack, wenn er durch diese historischen Beziehungen in den Werken seiner Dichter erst hätte gewonnen werden müssen! Nur ein barbarischer Geschmack braucht den Stachel des Privatinteresses, um zu der Schönheit hingelockt zu werden und nur der Stümper borgt von dem Stoff eine Kraft, die er in die Form zu legen verzweifelt. Die Poesie soll ihren Weg nicht durch die kalte Region des Gedächtnisses nehmen, soll nie die Gelehrsamkeit zu ihrer Auslegerin, nie den Eigennutz zu ihrem Fürsprecher machen. Sie soll das Herz treffen, weil sie aus dem Herzen floss und nicht auf den Staatsbürger in dem Menschen, sondern auf den Menschen in dem Staatsbürger zielen. 

   Es ist ein Glück, dass das wahre Genie auf die Fingerzeige nicht viel achtet, die man ihm, aus besserer Meinung als Befugnis, zu erteilen sich sauer werden lässt; sonst würden Sulzer und seine Nachfolger der deutschen Poesie eine sehr zweideutige Gestalt gegeben haben. Den Menschen moralisch auszubilden und Nationalgefühle in dem Bürger zu entzünden, ist zwar ein sehr ehrenvoller Auftrag für den Dichter, und die Musen wissen es am besten, wie nahe die Künste des Erhabenen und Schönen damit zusammenhängen mögen. Aber was die Dichtkunst mittelbar ganz vortrefflich macht, würde ihr unmittelbar nur sehr schlecht gelingen. Die Dichtkunst führt bei dem Menschen nie ein besonderes Geschäft aus, und man könnte kein ungeschickteres Werkzeug erwählen, um einen einzelnen Auftrag, ein Detail, gut besorgt zu sehen. Ihr Wirkungskreis ist das Total der menschlichen Natur und bloß, insofern sie auf den Charakter einfließt, kann sie auf seine einzelnen Wirkungen Einfluss haben. Die Poesie kann dem Menschen werden, was dem Helden die Liebe ist. Sie kann ihm weder raten, noch mit ihm schlagen, noch sonst eine Arbeit für ihn tun; aber zum Helden kann sie ihn erziehen, zu Taten kann sie ihn rufen und zu allem, was er sein soll, ihn mit Stärke ausrüsten. 

   Die ästhetische* Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift, beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, dass recht gehandelt werde, sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, dass recht handeln möglich sei, d.h. dass keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken vermöge. Diese Möglichkeit liegt aber in jeder starken Äußerung von Freiheit und Willenskraft und wo nur irgend der Dichter diese antrifft, da hat er einen zweckmäßigen Gegenstand für seine Darstellung gefunden. Für sein Interesse ist es eins, aus welcher Klasse von Charakteren, der schlimmen oder guten, er seine Helden nehmen will, da das nämliche Maß von Kraft, welches zum Guten nötig ist, sehr oft zur Konsequenz im Bösen erfordert werden kann. Wie viel mehr wir in ästhetischen* Urteilen auf die Kraft als auf die Richtung der Kraft, wie viel mehr auf Freiheit als auf Gesetzmäßigkeit sehen, wird schon daraus hinlänglich offenbar, dass wir Kraft und Freiheit lieber auf Kosten der Gesetzmäßigkeit geäußert, als die Gesetzmäßigkeit auf Kosten der Kraft und Freiheit beobachtet sehen. Sobald nämlich Fälle eintreten, wo das moralische Gesetz sich mit Antrieben gattet, die den Willen durch ihre Macht fortzureißen drohen, so gewinnt der Charakter ästhetisch*, wenn er diesen Antrieben widerstehen kann. Ein Lasterhafter fängt an, uns zu interessieren, sobald er Glück und Leben wagen muss, um seinen schlimmen Willen durchzusetzen; ein Tugendhafter hingegen verliert in demselben Verhältnis unsere Aufmerksamkeit, als seine Glückseligkeit selbst ihn zum Wohlverhalten nötigt. Rache, zum Beispiel, ist unstreitig ein unedler und selbst niedriger Affekt*. Nichtsdestoweniger wird sie ästhetisch*, sobald sie dem, der sie ausübt, ein schmerzhaftes Opfer kostet. Medea, indem sie ihre Kinder ermordet, zielt bei dieser Handlung auf Jasons Herz, aber zugleich führt sie einen schmerzhaften Stich auf ihr eigenes und ihre Rache wird ästhetisch* erhaben, sobald wir die zärtliche Mutter sehen. 

   Das ästhetische* Urteil enthält hierin mehr Wahres, als man gewöhnlich glaubt. Offenbar kündigen Laster, welche von Willensstärke zeugen, eine größere Anlage zur wahrhaften moralischen Freiheit an, als Tugenden, die eine Stütze von der Neigung entlehnen, weil es dem konsequenten Bösewicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendete, dem Guten zuzuwenden. Woher sonst kann es kommen, dass wir den halbguten Charakter mit Widerwillen von uns stoßen und dem ganz schlimmen oft mit schauernder Bewunderung folgen? Daher unstreitig, weil wir bei jenem auch die Möglichkeit des absolut freien Wollens aufgeben, diesem hingegen es in jeder Äußerung anmerken, dass er durch einen einzigen Willensakt sich zur ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann. 

   In ästhetischen* Urteilen sind wir also nicht für die Sittlichkeit an sich selbst, sondern bloß für die Freiheit interessiert und jene kann nur insofern unsrer Einbildungskraft gefallen, als sie die letztere sichtbar macht. Es ist daher offenbare Verwirrung der Grenzen, wenn man moralische Zweckmäßigkeit in ästhetischen* Dingen fordert, und, um das Reich der Vernunft zu erweitern, die Einbildungskraft aus ihrem rechtmäßigen Gebiet verdrängen will. Entweder wird man sie ganz unterjochen müssen, und dann ist es um alle ästhetische* Wirkung geschehen; oder sie wird mit der Vernunft ihre Herrschaft teilen, und dann wird für Moralität wohl nicht viel gewonnen sein. Indem man zwei verschiedene Zwecke verfolgt, wird man Gefahr laufen, beide zu verfehlen. Man wird die Freiheit der Phantasie durch moralische Gesetzmäßigkeit fesseln und die Notwendigkeit der Vernunft durch die Willkür der Einbildungskraft zerstören. 


1) Anmerkung des Herausgebers: Der Verfasser hatte in das dritte Stück der neuen Thalia vom Jahrgang 1793 eine Abhandlung vom Erhabenen eingerückt, die nach der Überschrift zur weitern Ausführung einiger Kantischen Ideen dienen sollte. Einige Jahre nachher war über diesen Gegenstand die Schrift entstanden, welche im zehnten Band dieser Ausgabe abgedruckt ist. Dieser spätern Bearbeitung, die sich mehr durch eigentümliche Ansichten auszeichnete, gab der Verfasser den Vorzug, als seine kleinen prosaischen Schriften zusammengedruckt wurden und von jener frühern Abhandlung wurde nur ein Teil unter dem Titel: Über das Pathetische, in dieser Sammlung aufgenommen. ­
2) Unter dem Gebiet der Tierheit begreife ich das ganze System derjenigen Erscheinungen am Menschen, die unter der blinden Gewalt des Naturtriebes stehen und ohne Voraussetzung einer Freiheit des Willens vollkommen erklärbar sind; unter dem Gebiet der Menschheit aber diejenigen, welche ihre Gesetze von der Freiheit empfangen. Mangelt nun bei einer Darstellung der Affekt* im Gebiet der Tierheit, so lässt uns dieselbe kalt; herrscht er hingegen im Gebiet der Menschheit, so ekelt sie uns an und empört. Im Gebiet der Tierheit muss der Affekt* jederzeit unaufgelöst bleiben, sonst fehlt das Pathetische; erst im Gebiet der Menschheit darf sich die Auflösung finden. Eine leidende Person, klagend und weinend vorgestellt, wird daher nur schwach rühren, denn Klagen und Tränen lösen den Schmerz schon im Gebiet der Tierheit auf. Weit stärker ergreift uns der verbissene stumme Schmerz, wo wir bei der Natur keine Hilfe finden, sondern zu etwas, das über alle Natur hinaus liegt, unsere Zuflucht nehmen müssen und eben in dieser Hinweisung auf das Übersinnliche liegt das Pathos und die tragische Kraft. ­
3) Diese Auflösung, erinnere ich beiläufig, erklärt uns auch die Verschiedenheit des ästhetischen* Eindrucks, den die Kantische Vorstellung der Pflicht auf seine verschiedenen Beurteiler zu machen pflegt. Ein nicht zu verachtender Teil des Publikums findet diese Vorstellung der Pflicht sehr demütigend; ein anderer findet sie unendlich erhebend für das Herz. Beide haben Recht und der Grund dieses Widerspruchs liegt bloß in der Verschiedenheit des Standpunkts, aus welchem beide diesen Gegenstand betrachten. Seine bloße Schuldigkeit tun, hat allerdings nichts Großes und insofern das Beste, was wir zu leisten vermögen, nichts als Erfüllung und noch mangelhafte Erfüllung unserer Pflicht ist, liegt in der höchsten Tugend nichts Begeisterndes. Aber bei allen Schranken der sinnlichen Natur dennoch treu und beharrlich seine Schuldigkeit tun und in den Fesseln der Materie dem heiligen Geistergesetz unwandelbar folgen, dies ist allerdings erhebend und der Bewunderung wert. Gegen die Geisterwelt gehalten, ist an unsrer Tugend freilich nichts Verdienstliches und wie viel wir es uns auch kosten lassen mögen, wir werden immer unnütze Knechte sein; gegen die Sinnenwelt gehalten, ist sie hingegen ein desto erhabeneres Objekt. Insofern wir also Handlungen moralisch beurteilen und sie auf das Sittengesetz beziehen, werden wir wenig Ursache haben, auf unsere Sittlichkeit stolz zu sein; insofern wir aber auf die Möglichkeit dieser Handlungen sehen und das Vermögen unsers Gemüts, das denselben zugrunde liegt, auf die Welt der Erscheinungen beziehen, d.h. insofern wir sie ästhetisch* beurteilen, ist uns ein gewisses Selbstgefühl erlaubt, ja, es ist sogar notwendig, weil wir ein Prinzipium in uns aufdecken, das über alle Vergleichung groß und unendlich ist. ­