Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Philosophische Briefe

 

Julius an Raphael

Im Oktober              

   Du bist fort, Raphael – und die schöne Natur geht unter, die Blätter fallen gelb von den Bäumen, ein trüber Herbstnebel liegt, wie ein Bahrtuch, über dem ausgestorbenen Gefilde. Einsam durchirre ich die melancholische Gegend, rufe laut deinen Namen aus und zürne, dass mein Raphael mir nicht antwortet. 

   Ich hatte deine letzten Umarmungen überstanden. Das traurige Rauschen des Wagens, der dich von hinnen führte, war endlich in meinem Ohr verstummt. Ich Glücklicher hatte schon einen wohltätigen Hügel von Erde über den Freuden der Vergangenheit aufgehäuft, und jetzt stehst du, gleich deinem abgeschiedenen Geist, von neuem in diesen Gegenden auf und meldest dich mir auf jedem Lieblingsplatz unserer Spaziergänge wieder. Diesen Felsen habe ich an deiner Seite erstiegen, an deiner Seite diese unermessliche Perspektive durchwandert. Im schwarzen Heiligtum dieser Buchen ersannen wir zuerst das kühne Ideal unserer Freundschaft. Hier war’s, wo wir den Stammbaum der Geister zum ersten Mal auseinander rollten und Julius einen so nahen Verwandten in Raphael fand. Hier ist keine Quelle, kein Gebüsch, kein Hügel, wo nicht irgendeine Erinnerung entflohener Seligkeit auf meine Ruhe zielte. Alles, alles hat sich gegen meine Genesung verschworen. Wohin ich nur trete, wiederhole ich den bangen Auftritt unsrer Trennung. 

   Was hast du aus mir gemacht, Raphael? Was ist seit kurzem aus mir geworden! Gefährlicher großer Mensch! Dass ich dich niemals gekannt hätte, oder niemals verloren! Eile zurück, auf den Flügeln der Liebe komm’ wieder, oder deine zarte Pflanzung ist dahin. Konntest du mit deiner sanften Seele es wagen, dein angefangenes Werk zu verlassen, noch so fern von seiner Vollendung? Die Grundpfeiler deiner stolzen Weisheit wanken in meinem Gehirn und Herzen, alle die prächtigen Paläste, die du bautest, stürzen ein, und der erdrückte Wurm wälzt sich wimmernd unter den Ruinen. 

   Selige paradiesische Zeit, da ich noch mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte, wie ein Trunkener – da all mein Fürwitz und alle meine Wünsche an den Grenzen meines väterlichen Horizonts wieder umkehrten – da mich ein heiterer Sonnenuntergang nichts Höheres ahnen ließ, als einen schönen morgenden Tag – da mich nur eine politische Zeitung an die Welt, nur die Leichenglocke an die Ewigkeit, nur Gespenstermärchen an eine Rechenschaft nach dem Tod erinnerten, da ich noch vor einem Teufel bebte und desto herzlicher an der Gottheit hing. Ich empfand und war glücklich. Raphael hat mich denken gelehrt, und ich bin auf dem Weg, meine Erschaffung zu beweinen.

   Erschaffung? – Nein, das ist ja nur ein Klang ohne Sinn, den meine Vernunft nicht gestatten darf. Es gab eine Zeit, wo ich von nichts wusste, wo von mir niemand wusste, also sagt man, ich war nicht. Jene Zeit ist nicht mehr, also sagt man, dass ich erschaffen sei. Aber auch von den Millionen, die vor Jahrhunderten da waren, weiß man nun nichts mehr, und doch sagt man, sie sind. Worauf gründen wir das Recht, den Anfang zu bejahen und das Ende zu verneinen? Das Aufhören denkender Wesen, behauptet man, widerspricht der unendlichen Güte. Entstand denn diese unendliche Güte erst mit der Schöpfung der Welt? – Wenn es eine Periode gegeben hat, wo noch keine Geister waren, so war die unendliche Güte ja eine ganze vorhergehende Ewigkeit unwirksam? Wenn das Gebäude der Welt eine Vollkommenheit des Schöpfers ist, so fehlte ihm ja eine Vollkommenheit vor Erschaffung der Welt? Aber eine solche Voraussetzung widerspricht der Idee des vollendeten Gottes, also war keine Schöpfung – Wo bin ich hingeraten, mein Raphael? – Schrecklicher Irrgang meiner Schlüsse! Ich gebe den Schöpfer auf, sobald ich an einen Gott glaube. Wozu brauche ich einen Gott, wenn ich ohne den Schöpfer ausreiche? 

   Du hast mir den Glauben gestohlen, der mir Frieden gab. Du hast mich verachten gelehrt, wo ich anbetete. Tausend Dinge waren mir so ehrwürdig, ehe deine traurige Weisheit sie mir entkleidete. Ich sah eine Volksmenge nach der Kirche strömen, ich hörte ihre begeisterte Andacht zu einem brüderlichen Gebet sich vereinigen – zweimal stand ich vor dem Bett des Todes, sah zweimal – mächtiges Wunderwerk der Religion! – Die Hoffnung des Himmels über die Schrecknisse der Vernichtung siegen und den frechen Lichtstrahl der Freude im gebrochenen Auge des Sterbenden sich entzünden. 

   Göttlich, ja göttlich muss die Lehre sein, rief ich aus, die die Besten unter den Menschen bekennen, die so mächtig siegt und so wunderbar tröstet. Deine kalte Weisheit löschte meine Begeisterung. Ebenso viele, sagtest du mir, drängten sich einst um die Irmensäule und zu Jupiters Tempel, ebenso viele haben eben so freudig ihrem Brama zu Ehren, den Holzstoß bestiegen. Was du am Heidentum so abscheulich findest, soll das die Göttlichkeit deiner Lehre beweisen? 

   Glaube niemand, als deiner eigenen Vernunft, sagtest du weiter. Es gibt nichts Heiliges, als die Wahrheit. Was die Vernunft erkennt, ist die Wahrheit. Ich habe dir gehorcht, habe alle Meinungen aufgeopfert, habe gleich jenem verzweifelten Eroberer alle meine Schiffe in Brand gesteckt, da ich an dieser Insel landete, und alle Hoffnung zur Rückkehr vernichtet. Ich kann mich nie mehr mit einer Meinung versöhnen, die ich einmal belachte. Meine Vernunft ist mir jetzt alles, meine einzige Gewährleistung für Gottheit, Tugend, Unsterblichkeit. Wehe mir von nun an, wenn ich diesem einzigen Bürgen auf einem Widerspruch begegne! Wenn meine Achtung vor ihren Schlüssen sinkt! Wenn ein zerrissener Faden in meinem Gehirn ihren Gang verrückt! – Meine Glückseligkeit ist von jetzt an dem harmonischen Takt meines Sensoriums anvertraut. Wehe mir, wenn die Saiten dieses Instruments in den bedenklichen Perioden meines Lebens falsch angeben – wenn meine Überzeugungen mit meinem Aderschlag wanken!

 

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