Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Philosophische Briefe

 

Julius an Raphael

   Deine Lehre hat meinem Stolz geschmeichelt. Ich war ein Gefangener. Du hast mich herausgeführt an den Tag; das goldne Licht und die unermessliche Freie haben meine Augen entzückt. Vorhin genügte mir an dem bescheidenen Ruhm, ein guter Sohn meines Hauses, ein Freund meiner Freunde, ein nützliches Glied der Gesellschaft zu heißen: Du hast mich in einen Bürger des Universums verwandelt. Meine Wünsche hatten noch keinen Eingriff in die Rechte der Großen getan. Ich duldete diese Glücklichen, weil Bettler mich duldeten. Ich errötete nicht, einen Teil des Menschengeschlechts zu beneiden, weil noch ein größerer übrig war, den ich beklagen musste. Jetzt erfuhr ich zum ersten Mal, dass meine Ansprüche auf Genuss so vollwichtig wären, als die meiner übrigen Brüder. Jetzt sah ich ein, dass eine Schicht über dieser Atmosphäre ich gerade so viel und so wenig gelte, als die Beherrscher der Erde. Raphael schnitt alle Bande der Übereinkunft und der Meinung entzwei. Ich fühlte mich ganz frei – denn die Vernunft, sagte mir Raphael, ist die einzige Monarchie in der Geisterwelt, ich trug meinen Kaiserthron in meinem Gehirn. Alle Dinge im Himmel und auf Erden haben keinen Wert, keine Schätzung, als so viel meine Vernunft ihnen zugesteht. Die ganze Schöpfung ist mein, denn ich besitze eine unwidersprechbare Vollmacht, sie ganz zu genießen. Alle Geister – eine Stufe tiefer unter dem vollkommensten Geist – sind meine Mitbrüder, weil wir alle einer Regel gehorchen, einem Oberherrn huldigen. 

   Wie erhaben und prächtig klingt diese Verkündigung! Welcher Vorrat für meinen Durst nach Erkenntnis! Aber – unglückseliger Widerspruch der Natur! – – Dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schicksale angejocht – dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen. Der ungeheure Raum der Natur ist seiner Tätigkeit aufgetan, aber er darf nur nicht zwei Ideen zugleich denken. Seine Augen tragen ihn bis zu dem Sonnenziel der Gottheit, aber er selbst muss erst träge und mühsam durch die Elemente der Zeit ihm entgegen kriechen. Einen Genuss zu erschöpfen, muss er jeden andern verloren geben; zwei unumschränkte Begierden sind seinem kleinen Herzen zu groß. Jede neu erworbene Freude kostet ihn die Summe aller vorigen. Der jetzige Augenblick ist das Grabmal aller vergangenen. Eine Schäferstunde der Liebe ist ein aussetzender Aderschlag in der Freundschaft. 

   Wohin ich nur sehe, Raphael, wie beschränkt ist der Mensch! Wie groß der Abstand zwischen seinen Ansprüchen und ihrer Erfüllung! – O, beneide ihm doch den wohltätigen Schlaf! Wecke ihn nicht! Er war so glücklich, bis er anfing, zu fragen, wohin er gehen müsse, und woher er gekommen sei. Die Vernunft ist eine Fackel in einem Kerker. Der Gefangene wusste nichts von dem Licht, aber ein Traum der Freiheit schien über ihm, wie ein Blitz in der Nacht, der sie finsterer zurücklässt. Unsere Philosophie ist die unglückselige Neugier des Ödipus, der nicht nachließ, zu forschen, bis das entsetzliche Orakel sich auflöste: 

„Möchtest du nimmer erfahren, wer du bist!“ 

   Ersetzt mir deine Weisheit, was sie mir genommen hat? Wenn du keinen Schlüssel zum Himmel hattest, warum musstest du mich der Erde entführen? Wenn du voraus wusstest, dass der Weg zu der Weisheit durch den schrecklichen Abgrund der Zweifel führt, warum wagtest du die ruhige Unschuld deines Julius auf diesen bedenklichen Wurf? 

– Wenn an das Gute,
Das ich zu tun vermeine, allzu nah
Was gar zu Schlimmes grenzt, so tu’ ich lieber
Das Gute nicht – 

Du hast eine Hütte niedergerissen, die bewohnt war, und einen prächtigen toten Palast auf die Stelle gegründet. 

   Raphael, ich fordre meine Seele von dir. Ich bin nicht glücklich. Mein Muth ist dahin. Ich verzweifle an meinen eigenen Kräften. Schreibe mir bald! Nur deine heilende Hand kann Balsam in meine brennende Wunde gießen.

 

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