Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Philosophische Briefe

 

Raphael an Julius

   Das wäre nun freilich schlimm, wenn es kein anderes Mittel gäbe, dich zu beruhigen, Julius, als den Glauben an die Erstlinge deines Nachdenkens bei dir wieder herzustellen. Ich habe diese Ideen, die ich bei dir aufkeimen sah, mit innigem Vergnügen in deinen Papieren wieder gefunden. Sie sind einer Seele, wie die deinige, wert, aber hier konntest und durftest du nicht stehen bleiben. Es gibt Freuden für jedes Alter und Genüsse für jede Stufe der Geister. 

   Schwer musste es dir wohl werden, dich von einem System zu trennen, das so ganz für die Bedürfnisse deines Herzens geschaffen war. Kein andres, ich wette darauf, wird je wieder so tiefe Wurzeln bei dir schlagen, und vielleicht dürftest du nur ganz dir selbst überlassen sein, um früher oder später mit deinen Lieblingsideen wieder ausgesöhnt zu werden. Die Schwächen der entgegengesetzten Systeme würdest du bald bemerken und alsdann, bei gleicher Unerweislichkeit, das Wünschenswerteste vorziehen, oder vielleicht neue Beweisgründe auffinden, um wenigstens das Wesentliche davon zu retten, wenn du auch einige gewagtere Behauptungen preisgeben müsstest. 

   Aber dies alles ist nicht in meinem Plan. Du sollst zu einer höhern Freiheit des Geistes gelangen, wo du solcher Behelfe nicht mehr bedarfst. Freilich ist dies nicht das Werk eines Augenblicks. Das gewöhnliche Ziel der früheren Bildung ist Unterjochung des Geistes, und von allen Erziehungskunststücken gelingt dies fast immer am ersten. Selbst du, bei aller Elastizität deines Charakters, schienst zu einer willigen Unterwerfung unter die Herrschaft der Meinungen vor tausend andern bestimmt, und dieser Zustand der Unmündigkeit konnte bei dir desto länger dauern, je weniger du das Drückende davon fühltest. Kopf und Herz stehen bei dir in der engsten Verbindung. Die Lehre wurde dir wert durch den Lehrer. Bald gelang es dir, eine interessante Seite daran zu entdecken, sie nach den Bedürfnissen deines Herzens zu veredeln und über die Punkte, die dir auffallen mussten, dich durch Resignation zu beruhigen. Angriffe gegen solche Meinungen verachtetest du als bübische Rache einer Sklavenseele an der Rute ihres Zuchtmeisters. Du prangtest mit deinen Fesseln, die du aus freier Wahl zu tragen glaubtest. 

   So fand ich dich, und es war mir ein trauriger Anblick, wie du so oft mitten im Genuss deines blühendsten Lebens und in Äußerung deiner edelsten Kräfte durch ängstliche Rücksichten gehemmt wurdest. Die Konsequenz, mit der du nach deinen Überzeugungen handeltest, und die Stärke der Seele, die dir jedes Opfer erleichterte, waren doppelte Beschränkungen deiner Tätigkeit und deiner Freuden. Damals beschloss ich, jene stümperhaften Bemühungen zu vereiteln, wodurch man einen Geist, wie den deinigen, in die Form alltäglicher Köpfe zu zwingen gesucht hatte. Alles kam darauf an, dich auf den Werth des Selbstdenkens aufmerksam zu machen und dir Zutrauen zu deinen eigenen Kräften einzuflößen. Der Erfolg deiner ersten Versuche begünstigte meine Absicht. Deine Phantasie war freilich mehr dabei beschäftigt, als dein Scharfsinn. Ihre Ahnungen ersetzten dir schneller den Verlust deiner teuersten Überzeugungen, als du es vom Schneckengang der kaltblütigen Forschung, die vom Bekannten zum Unbekannten stufenweise fortschreitet, erwarten konntest. Aber eben dies begeisternde System gab dir den ersten Genuss in diesem neuen Feld von Tätigkeit, und ich hütete mich sehr, einen willkommenen Enthusiasmus zu stören, der die Entwicklung deiner trefflichsten Anlagen beförderte. Jetzt hat sich die Szene geändert. Die Rückkehr unter die Vormundschaft deiner Kindheit ist auf immer versperrt. Dein Weg geht vorwärts, und du bedarfst keiner Schonung mehr.

   Dass ein System, wie das deinige, die Probe einer strengen Kritik nicht aushalten konnte, darf dich nicht befremden. Alle Versuche dieser Art, die dem deinigen an Kühnheit und Weite des Umfangs gleichen, hatten kein anderes Schicksal. Auch war nichts natürlicher, als dass deine philosophische Laufbahn bei dir im Einzelnen ebenso begann, als bei dem Menschengeschlecht im Ganzen. Der erste Gegenstand, an dem sich der menschliche Forschungsgeist versuchte, war von jeher – das Universum. Hypothesen über den Ursprung des Weltalls und den Zusammenhang seiner Teile hatten Jahrhunderte lang die größten Denker beschäftigt, als Sokrates die Philosophie seiner Zeiten vom Himmel zur Erde herab rief. Aber die Grenzen der Lebensweisheit waren für die stolze Wissbegierde seiner Nachfolger zu eng. Neue Systeme entstanden aus den Trümmern der alten. Der Scharfsinn späterer Zeitalter durchstreifte das unermessliche Feld möglicher Antworten auf jene immer von neuem sich aufdringenden Fragen über das geheimnisvolle Innere der Natur, das durch keine menschliche Erfahrung enthüllt werden konnte. Einigen gelang es sogar, den Resultaten ihres Nachdenkens einen Anstrich von Bestimmtheit, Vollständigkeit und Evidenz zu geben. Es gibt mancherlei Taschenspielerkünste, wodurch die eitle Vernunft der Beschämung zu entgehen sucht, in Erweiterung ihrer Kenntnisse die Grenzen der menschlichen Natur nicht überschreiten zu können. Bald glaubt man neue Wahrheiten entdeckt zu haben, wenn man einen Begriff in die einzelnen Bestandteile zerlegt, aus denen er erst willkürlich zusammengesetzt war. Bald dient eine unmerkliche Voraussetzung zur Grundlage einer Kette von Schlüssen, deren Lücken man schlau zu verbergen weiß, und die erschlichenen Folgerungen werden als hohe Weisheit angestaunt. Bald häuft man einseitige Erfahrungen, um eine Hypothese zu begründen, und verschweigt die entgegengesetzten Phänomene, oder man verwechselt die Bedeutung der Worte nach den Bedürfnissen der Schlussfolge. Und dies sind nicht etwa bloß Kunstgriffe für den philosophischen Charlatan, um sein Publikum zu täuschen. Auch der redlichste, unbefangenste Forscher gebraucht oft, ohne es sich bewusst zu sein, ähnliche Mittel, um seinen Durst nach Kenntnissen zu stillen, sobald er einmal aus der Sphäre heraustritt, in welcher allein seine Vernunft sich mit Recht des Erfolgs ihrer Tätigkeit freuen kann. 

   Nach dem, was du ehemals von mir gehört hast, Julius, müssen dich diese Äußerungen nicht wenig überraschen. Und gleichwohl sind sie nicht das Produkt einer zweifelsüchtigen Laune. Ich kann dir Rechenschaft von den Gründen geben, worauf sie beruhen, aber hierzu müsste ich freilich eine etwas trockne Untersuchung über die Natur der menschlichen Erkenntnis vorausschicken, die ich lieber auf eine Zeit verspare, da sie für dich ein Bedürfnis sein wird. Noch bist du nicht in derjenigen Stimmung, wo die demütigenden Wahrheiten von den Grenzen des menschlichen Wissens dir interessant werden können. Mache zuerst einen Versuch an dem System, welches bei dir das deinige verdrängte. Prüfe es mit gleicher Unparteilichkeit und Strenge. Verfahre ebenso mit andern Lehrgebäuden, die dir neuerlich bekannt worden sind; und wenn keines: Ob diese Forderungen auch wirklich gerecht waren? 

   „Ein leidiger Trost“, wirst du sagen. „Resignation ist also meine ganze Aussicht nach so viel glänzenden Hoffnungen? War es da wohl der Mühe wert, mich zum vollen Gebrauch meiner Vernunft aufzufordern, um ihm gerade da Grenzen zu setzen, wo er mir am fruchtbarsten zu werden anfing? Musste ich einen höhern Genuss nur deswegen kennen lernen, um das Peinliche meiner Beschränkung doppelt zu fühlen?“ 

   Und doch ist es eben dies niederschlagende Gefühl, was ich bei dir so gern unterdrücken möchte. Alles zu entfernen, was dich im vollen Genuss deines Daseins hindert, den Keim jeder höhern Begeisterung – das Bewusstsein des Adels deiner Seele – in dir zu beleben, dies ist mein Zweck. Du bist aus dem Schlummer erwacht, in den dich die Knechtschaft unter fremden Meinungen wiegte. Aber das Maß von Größe, wozu du bestimmt bist, würdest du nie erfüllen, wenn du im Streben nach einem unerreichbaren Ziel deine Kräfte verschwendetest. Bis jetzt mochte dies hingehen und war auch eine natürliche Folge deiner neu erworbenen Freiheit. Die Ideen, welche dich vorher am meisten beschäftigt hatten, mussten notwendig der Tätigkeit deines Geistes die erste Richtung geben. Ob diese unter allen möglichen die fruchtbarste sei, würden dich deine eigenen Erfahrungen früher oder später belehrt haben. Mein Geschäft war bloß, diesen Zeitpunkt, wo möglich, zu beschleunigen. 

   Es ist ein gewöhnliches Vorurteil, die Größe des Menschen nach dem Stoff zu schätzen, womit er sich beschäftigt, nicht nach der Art, wie er ihn bearbeitet. Aber ein höheres Wesen ehrt gewiss das Gepräge der Vollendung auch in der kleinsten Sphäre, wenn es dagegen auf die eitlen Versuche, mit Insektenblicken das Weltall zu überschauen, mitleidig herabsieht. Unter allen Ideen, die in deinem Aufsatze enthalten sind, kann ich dir daher am wenigsten den Satz einräumen, dass es die höchste Bestimmung des Menschen sei, den Geist des Weltschöpfers in seinem Kunstwerk zu ahnen. Zwar weiß auch ich für die Tätigkeit des vollkommensten Wesens kein erhabeneres Bild, als die Kunst. Aber eine wichtige Verschiedenheit scheinst du übersehen zu haben. Das Universum ist kein reiner Abdruck eines Ideals, wie das vollendete Werk eines menschlichen Künstlers. Dieser herrscht despotisch über den toten Stoff, den er zu Versinnlichung seiner Ideen gebraucht. Aber in dem göttlichen Kunstwerk ist der eigentümliche Wert jedes seiner Bestandteile geschont, und dieser anhaltende Blick, dessen er jeden Keim von Energie, auch in dem kleinsten Geschöpf, würdigt, verherrlicht den Meister ebenso sehr, als die Harmonie des unermesslichen Ganzen. Leben und Freiheit im größten möglichen Umfang ist das Gepräge der göttlichen Schöpfung. Sie ist nie erhabener, als da, wo ihr Ideal am meisten verfehlt zu sein scheint. Aber eben diese höhere Vollkommenheit kann in unserer jetzigen Beschränkung von uns nicht gefasst werden. Wir übersehen einen zu kleinen Teil des Weltalls, und die Auflösung der größeren Menge von Misstönen ist unserem Ohr unerreichbar. Jede Stufe, die wir auf der Leiter der Wesen emporsteigen, wird uns für diesen Kunstgenuss empfänglicher machen, aber auch alsdann hat er gewiss seinen Werth nur als Mittel, nur insofern er uns zu ähnlicher Tätigkeit begeistert. Träges Anstaunen fremder Größe kann nie ein höheres Verdienst sein. Dem edleren Menschen fehlt es weder an Stoff zur Wirksamkeit, noch an Kräften, um selbst in seiner Sphäre Schöpfer zu sein. Und dieser Beruf ist auch der deinige, Julius. Hast du ihn einmal erkannt, so wird es dir nie wieder einfallen, über die Schranken zu klagen, die deine Wissbegierde nicht überschreiten kann. 

   Und dies ist der Zeitpunkt, den ich erwarte, um dich vollkommen mit mir ausgesöhnt zu sehen. Erst muss dir der Umfang deiner Kräfte völlig bekannt werden, ehe du den Wert ihrer freiesten Äußerung schätzen kannst. Bis dahin zürne immer mit mir, nur verzweifle nicht an dir selbst.

 

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