Friedrich SchillerFriedrich Schiller

Eine großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte

(Aus dem württembergischen Repertorium der Literatur 1782.) 

   Schauspiele und Romane eröffnen uns die glänzendsten Züge des menschlichen Herzens; unsre Phantasie wird entzündet, unser Herz bleibt kalt; wenigstens ist die Glut, worein es auf diese Weise versetzt wird, nur augenblicklich und erfriert fürs praktische Leben. In dem nämlichen Augenblick, da uns die schmucklose Gutherzigkeit des ehrlichen Puffs bis beinahe zu Tränen rührt, zanken wir vielleicht einen anklopfenden Bettler mit Ungestüm ab. Wer weiß, ob nicht eben diese gekünstelte Existenz in einer idealistischen Welt unsere Existenz in der wirklichen untergräbt? Wir schweben hier gleichsam um die zwei äußersten Enden der Moralität, Engel und Teufel, und die Mitte – den Menschen – lassen wir liegen. 

   Gegenwärtige Anekdote von zwei Deutschen – mit stolzer Freude schreib’ ich das nieder – hat ein unabstreitbaren Verdienst – sie ist wahr. Ich hoffe, dass sie meine Leser wärmer zurücklassen werde als alle Bände des Grandison und der Pamela. 

   Zwei Brüder – Barone* von Wrmb, hatten sich beide in ein junges, vortreffliches Fräulein von Wrthr verliebt, ohne dass der eine um des andern Leidenschaft wusste. Beider Liebe war zärtlich und stark, weil sie die erste war. Das Fräulein war schön und zur Empfindung geschaffen. Beide ließen ihre Neigung zur ganzen Leidenschaft aufwachsen, weil keiner die Gefahr kannte, die für sein Herz die schrecklichste war – seinen Bruder zum Nebenbuhler zu haben. Beide verschonten das Mädchen mit einem frühen Geständnis, und so hintergingen sich beide, bis ein unerwartetes Begegnis ihrer Empfindungen das ganze Geheimnis entdeckte. 

   Schon war die Liebe eines jeden bis auf den höchsten Grad gestiegen, der unglückseligste Affekt*, der im Geschlecht der Menschen beinahe so grausame Verwüstungen angerichtet hat als sein abscheuliches Gegenteil, hatte schon die ganze Fläche ihres Herzens eingenommen, dass wohl von keiner Seite eine Aufopferung möglich war. Das Fräulein, voll Gefühl für die traurige Lage dieser beiden Unglücklichen, wagte es nicht, ausschließend für einen zu entscheiden, und unterwarf ihre Neigung dem Urteil der brüderlichen Liebe. 

   Sieger in diesem zweifelhaften Kampf der Pflicht und Empfindung, den unsre Philosophen so allzeit fertig entscheiden, und der praktische Mensch so langsam unternimmt, sagte der ältere Bruder zum jüngern: „Ich weiß, dass du mein Mädchen liebst, feurig wie ich. Ich will nicht fragen, für wen ein älteres Recht entscheidet. – Bleibe du hier, ich suche die weite Welt, ich will streben, dass ich sie vergesse. Kann ich das – Bruder, dann ist sie dein, und der Himmel segne deine Liebe! – Kann ich es nicht – nun dann, so geh’ auch du hin – und tu’ ein Gleiches.“ 

   Er verließ gählings Deutschland und eilte nach Holland – aber das Bild seines Mädchens eilte ihm nach. Fern von dem Himmelsstrich seiner Liebe, aus einer Gegend verbannt, die seines Herzens ganze Seligkeit einschloss, in der er allein zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie die Pflanze dahin schwindet, die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von der milderen Sonne in rauere Beete zwingt. Er erreichte verzweifelnd Amsterdam; dort warf ihn ein hitziges Fieber auf ein gefährliches Lager. Das Bild seiner Einzigen herrschte in seinen wahnsinnigen Träumen, seine Genesung hing an ihrem Besitz. Die Ärzte zweifelten für sein Leben; nur die Versicherung, ihn seiner Geliebten wieder zu geben, riss ihn mühsam aus den Armen des Todes. Ein wandelndes Gerippe, das erschrecklichste Bild des zehrenden Kummers, kam er in seiner Vaterstadt an, schwindelte er über die Treppe seiner Geliebten, seines Bruders. 

   „Bruder, hier bin ich wieder. Was ich meinem Herzen zumutete, weiß der im Himmel – Mehr kann ich nicht.“ 

   Ohnmächtig sank er in die Arme des Fräuleins.

   Der jüngere Bruder war nicht minder entschlossen. In wenigen Wochen stand er reisefertig da. 

  „Bruder, du trugst deinen Schmerz bis nach Holland. – Ich will versuchen, ihn weiter zu tragen. Führe sie nicht zum Altar, bis ich dir weiter schreibe. Nur diese Bedingung erlaubt sich die brüderliche Liebe. Bin ich glücklicher als du! – In Gottes Namen, so sei sie dein, und der Himmel segne eure Liebe. Bin ich es nicht? – Nun denn, so möge der Himmel weiter über uns richten! Lebe wohl. Behalte dieses versiegelte Päckchen, erbrich es nicht, bis ich von hinnen bin – Ich geh’ nach Batavia.“

   Hier sprang er in den Wagen. 

   Halb entseelt starrten ihm die Hinterbleibenden nach. Er hatte den Bruder an Edelmut übertroffen. Auf den Zurückbleibenden stürmte die Liebe und zugleich der Schmerz über den Verlust des edelsten Mannes. Das Geräusch des fliehenden Wagens durchdonnerte sein Herz. Man besorgte für sein Leben. Das Fräulein – doch nein! Davon wird das Ende reden.

   Man erbrach das Paket. Es war eine vollgültige Verschreibung aller seiner deutschen Besitzungen, die der Bruder erheben sollte, wenn es dem Fliehenden in Batavia* glückte. Der Überwinder seiner selbst ging mit holländischen Kauffahrern unter Segel und kam glücklich in Batavia* an. Wenige Wochen, so übersandte er dem Bruder folgende Zeilen: 

   „Hier, wo ich Gott dem Allmächtigen danke, hier auf der neuen Erde denk’ ich deiner und unserer Lieben mit aller Wonne eines Märtyrers. Die neuen Szenen und Schicksale haben meine Seele erweitert, Gott hat mir Kraft geschenkt, der Freundschaft das höchste Opfer zu bringen, dein ist – Gott! Hier fiel eine Träne – die letzte – Ich hab’ überwunden – Dein ist das Fräulein. – Bruder, ich hab sie nicht besitzen sollen, das heißt, sie wäre mit mir nicht glücklich gewesen. Wenn ihr je der Gedanke käme – sie wäre es mit mir gewesen – Bruder! – Bruder! – Schwer wälze ich sie auf deine Seele. Vergiss nicht, wie schwer sie dir erworben werden musste – Behandle den Engel immer, wie es jetzt deine junge Liebe dich lehrt – Behandle sie als ein teures Vermächtnis eines Bruders, den deine Arme nimmer umstricken werden. Lebe wohl! Schreibe mir nicht, wenn du deine Brautnacht feierst. Meine Wunde blutet noch immer. Schreibe mir, wie glücklich Du bist. Meine Tat ist mir Bürge, dass auch mich Gott in der fremden Welt nicht verlassen wird.“ 

   Die Vermählung wurde vollzogen. Ein Jahr dauerte die seligste der Ehen – Dann starb die Frau. Sterbend erst bekannte sie ihrer Vertrautesten das unglückseligste Geheimnis ihres Busens: Sie hatte den Entflohenen stärker geliebt. 

   Beide Brüder leben noch wirklich. Der ältere auf seinen Gütern in Deutschland, aufs Neue vermählt. Der jüngere blieb in Batavia*und gedieh zum glücklichen, glänzenden Mann. Er tat ein Gelübde, niemals zu heiraten, und hat es gehalten.